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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wohlleben
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würden wir jedem Grabkäufer schriftlich geben und, sicher ist sicher, auch noch über einen Eintrag im Grundbuch der Gemeinde fixieren.
    Die Buchen wurden eingemessen, mit kleinen Nummernplättchen versehen und in Karten übertragen. Außerdem wurde der alte, holprige Holzabfuhrweg geglättet und mit einer neuen Splittschicht bedeckt, sodass auch gehbehinderte Menschen eine Chance bekamen, den Ruheforst zu erkunden. Am Parkplatz, einem ehemaligen Holzlager, errichteten wir eine Informationstafel für Besucher. Im Herbst 2003 wurde der Bestattungswald feierlich eröffnet und wenig später erfolgte die erste Urnenbeisetzung. Auf diese Weise entstand das erste privat finanzierte Buchenreservat, ein Teil meines Waldgebiets war gerettet. Von meinen Kollegen erntete ich nur Hohn und Spott; zum Totengräber würden sie sich niemals hergeben.
    Recht hatten sie insofern, als sich mein beruflicher Alltag drastisch änderte. Die Hälfte meiner Arbeitszeit verbrachte ich nun damit, Interessenten den Ruheforst zu zeigen und bei Gefallen einen Grabbaum zu verpachten. Eigentlich eine angenehme Tätigkeit, denn es handelte sich durchweg um Naturliebhaber, die meine Sichtweise unterstützten. Die Grabgebühr deckte den Holzwert des ausgesuchten Baums ab, der damit seine finanzielle Schuldigkeit getan hatte und deshalb in Ruhe alt werden durfte.
    Das Ganze funktioniert recht einfach: Interessenten können sich zu Lebzeiten oder im Todesfall eines Angehörigen einen Baum aussuchen. Um jeden Stamm sind im Umkreis von zwei Metern zehn Gräber eingemessen, die über 99 Jahre von der Familie, dem Freundeskreis oder auch nur einer einzelnen Person genutzt werden. Durch die lange Laufzeit können sich von der Oma bis zum Enkel drei Generationen unter dem Baum einfinden. Auf Wunsch weist eine kleine Namenstafel auf die Beigesetzten hin. Da nur biologisch abbaubare Urnen zulässig sind, wird der Waldboden nicht geschädigt. Und wenn sich die Gefäße auflösen, kann der Baum in der Asche wurzeln und sie als Nährstoffe für sein Wachstum nutzen. Das ist ein schönes Sinnbild für den ewigen Kreislauf. Die Grabpflege übernimmt die Natur, im Wald sind die Gräber daher nicht zu erkennen. Und so ist der alte Buchenwald auch nach über 2 500 Beisetzungen immer noch der alte: Neben vereinzelten Besuchern sind es vor allem die Tiere, die sich zwischen den mächtigen Stämmen wohlfühlen.
    Das ist eine runde Sache, wären da nicht die tragischen Lebensgeschichten der Kunden. Naturbedingt gibt es viele darunter, die entweder einen Angehörigen verloren haben oder selbst schwer erkrankt sind. So wie das alte Ehepaar, das an einem heißen Sommertag 2004 nach Hümmel kam. Sie hatten sich telefonisch angemeldet, um sich die letzte Ruhestätte auszusuchen, und bei meiner Mitarbeiterin angegeben, sie seien schwer gehbehindert. Als ihr kleines Auto auf den Schotterparkplatz einbog, stieg ich aus meinem Geländewagen, um sie in ihrem Wagen zu begrüßen. Die Frau kurbelte die Scheibe herunter, gab mir lächelnd die Hand und erklärte bedauernd, dass sie keine zehn Meter laufen könne. Kurzerhand bot ich an, beide in meinen Jeep zu verfrachten und dann vom Hauptweg und aus dem Auto heraus eine Waldführung zu machen. Gesagt, getan, und wenig später rollten wir durch den alten Buchenwald. Ich erläuterte das Schutzkonzept, und beide verliebten sich spontan in einen besonders dicken Baum. Er stand am Weg, sodass das Paar ihn fast aus dem Fenster heraus berühren konnte. Beide sahen sich lächelnd an, nickten kurz und sagten: »Den nehmen wir!« Ich notierte die Nummer und dann erzählte mir die Frau, dass sie beide krebskrank im Endstadium seien. Sie hätten nur noch wenige Wochen zu leben und ihre größte Sorge sei es gewesen, dass sie es nicht mehr schaffen könnten, eine gemeinsame Ruhestätte in der Natur zu finden. Dabei strahlte sie mich an: »Das ist der schönste Tag seit Langem!« Im Herbst sind dann die beiden Urnen gekommen und wenig später fand die Beisetzung unter der alten Buche statt.
    Auch die junge Frau, aufgedunsen von Medikamenten, geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Freudestrahlend lief sie auf eine junge Buche zu, deren Stämmchen nur acht Meter hoch unter den riesigen Altbäumen stand. »Der ist für mich allein«, entschied sie. Der Gedanke an die letzte Ruhe unter ihrem Baum ließ ihr den Abschied leichter werden und auch sie liegt mittlerweile im alten Wald.
    Ich habe Jahre gebraucht, um mein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.

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