Der Wald - ein Nachruf
Fast jeden Tag höre ich von solchen Dramen und kann mich nicht daran gewöhnen. Es tut mir immer noch leid, wenn ich von verstorbenen Säuglingen, verunfallten Motorradfahrern oder dem Tod alter Menschen nach leidensvoller Krankheit erfahre. Neben der Anteilnahme zwingen mich diese Begegnungen immer wieder, mich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Hilfreich ist der Gedanke, dass ich vielen Menschen diesen schweren Gang mit der Vorstellung eines besonders schönen Ortes der Ruhe erleichtern kann. Dass sie sich ihren Traum von einem Grab in der Natur erfüllen können, wo der ewige Wettlauf des Materiellen ein Ende hat. Ob Millionär oder Sozialhilfeempfänger, im Wald verschwinden die Unterschiede.
Im Ruheforst ist es untersagt, Blumen abzulegen, schließlich soll der Wald möglichst natürlich erhalten bleiben. Das wissen die Angehörigen auch, und dennoch kommt bei manchen nach der Beisetzung das Bedürfnis auf, bei einem Besuch etwas mitzubringen. Deshalb haben wir eine kleine Andachtsstelle mit Holzkreuz und zwei Bänken eingerichtet, wo man auch einzelne Blumen ablegen darf. In Ausnahmefällen hält das jedoch manche nicht davon ab, etwas direkt auf das betreffende Grab zu legen. Konsequenterweise sammelt mein Mitarbeiter diese Dinge ein und legt sie unter das Kreuz. Es geht aber auch anders: Eine Zeit lang fand ich im Sommer regelmäßig kleine Wassereisstücke im Wald und fragte mich, wo sie herrührten. Selbst im Winter wäre eine Erklärung nur schwer zu finden gewesen, denn am Boden gab es nirgendwo Pfützen, die frieren könnten. Eines Tages entdeckte ich dann des Rätsels Lösung. Ein älterer Mann, der seine Frau im Ruheforst beigesetzt hatte, legte ein Wassereisherz auf das Grab. Diese Herzen fertigte er zu Hause in einer Form an, die er mit Wasser gefüllt ins Gefrierfach legte. Das Herz schmolz in der Sommersonne und zog so langsam in die Graberde ein. Ich war gerührt. Solche Gaben stören den Wald nicht und sind individueller als ein Strauß Blumen aus dem Geschäft.
Es gibt auch heitere Momente im Bestattungswald. Vor allem bei Baumkäufen, die der Vorsorge dienen, scherzen die Käufer gern und legen sich auch schon einmal zur Probe unter den Baum. Die gelöste Atmosphäre hilft den Menschen, mit diesem schwierigen Thema umzugehen. Vor allem Männer haben damit Probleme, wie der Fall eines alten Ehepaars deutlich macht. Beide gingen auf die 90 zu. Die Frau wollte nun endlich Maßnahmen zur Vorsorge ergreifen, wollte die Beisetzung so festlegen, dass ihre Kinder möglichst wenig Arbeit haben sollten. Ihr Mann ging dagegen nur äußerst widerwillig neben ihr durch den Wald. Er hatte kaum einen Blick für die Schönheit der Baumriesen und murmelte immer wieder: »Das können wir doch auch noch später machen.«
Survival im Wald
In den heimischen Wäldern herrscht eine gewisse Großzügigkeit. Es gilt das freie Betretungsrecht, das heißt, generell ist es jedem erlaubt, abseits der Wege durchs Unterholz zu streifen, egal ob der Wald staatliches, kommunales oder privates Eigentum ist. Lediglich Anpflanzungen und Schutzgebiete sind davon ausgenom men, hier gilt das Gebot, nur die Wege zu benutzen. Um die Bedeutung dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit richtig einzuordnen, brauchen wir bloß einen Blick in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu werfen. In den USA ist sehr viel Wald in Privatbesitz, doch trotz der riesigen Fläche ist man hier viel kleinlicher. Das Betreten fremden Eigentums ist nicht erlaubt und oft sind selbst größte Ländereien komplett eingezäunt. Die Nutzung der Natur ist bei uns zu Hause viel großzügiger geregelt. Selbst das Pilzesammeln für den Hausgebrauch ist zulässig, und das finde ich schon erstaunlich. Stellen Sie sich einmal vor, fremde Leute kämen in Ihren Garten, um Erdbeeren zu pflücken. Da wäre Ärger vorprogrammiert. Gehört Ihnen jedoch eine Waldparzelle, so müssen Sie es dulden, dass Fremde Pfifferlinge oder Steinpilze ernten, ohne zu fragen. Sozialbindung des Eigentums heißt das in der Fachsprache und bedeutet, dass wohlhabende Landbesitzer nicht einfach alles nur für sich behalten können.
In Mitteleuropa kommen Hunderte Einwohner auf einen Quadratkilometer Wald, doch da die meisten Wanderer auf den Wegen bleiben, hält sich das Gedränge zwischen den Bäumen in Grenzen. Allein schon der Gedanke, dass man seine Schritte dorthin lenken darf, wohin man will, erzeugt ein Gefühl der Freiheit. Diese Freiheit endet jedoch abrupt,
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