Der Wald ist schweigen
Moment, in dem sie Heiner von Stettens Arbeitszimmer erreicht, hört sie, wie oben die Eingangstür an der Rezeption geöffnet wird.
Sie hat keine Zeit mehr, den Computer ordentlich herunterzufahren. Sie reißt den Netzstecker heraus, ihre Hand zittert so sehr, dass sie es erst im dritten Versuch schafft, den Stecker wieder einzustöpseln. Vom Flur fällt jetzt ein schmaler Lichtstrahl unter der Zimmertür durch. Judith wirft den Büroschlüssel zurück in das Kästchen, drückt die Schublade zu. Schritte auf der Treppe. Eilige Schritte, und es gibt kein Versteck in Heiner von Stettens Büro. Sie reißt den Vorhang zur Seite, will die gläserne Tür in den Garten öffnen – vergebens, der Hebel lässt sich nicht bewegen. Ihr bleibt gerade noch Zeit, sich hinter den Vorhang an die Wand zu stellen, als die Tür aufgestoßen wird. Wenn nicht gerade alles auf dem Spiel stünde, müsste sie über sich selbst lachen. So viel zum Thema ›unrealistischer Kriminalroman‹.
»Heiner?« Vedanyas Stimme. Im nächsten Moment geht das Deckenlicht an. Eins, zwei, drei Schritte. Stille. Ein Geräusch, wie ein Schnuppern. »Ks, ks, ks«, ein Fingernagel, der an die gläserne Aquariumswand schnippt. Dann, nach unerträglich langen Sekunden, plötzlich wieder Dunkelheit, das leise Quietschen der sich schließenden Tür. Es hat funktioniert, sie kann es fast nicht glauben. Trotzdem wagt sie kaum zu atmen, während auf dem Flur weitere Türen geöffnet und wieder geschlossen werden. Lange nachdem die Haustür wieder ins Schloss gefallen ist, schleicht sie zurück in ihr Zimmer.
Sonntag, 9. November
Als sie erwacht, ist es immer noch dunkel. Benommen von viel zu wenig Schlaf tastet Judith nach ihrem Wecker. Fünf Uhr. Die Gardinen flattern träge in einem Luftzug, der einen Hauch von – sie schnuppert ungläubig – Zigarettenrauch in ihr Zimmer trägt. Ohne Licht zu machen öffnet sie das Fenster und lehnt sich hinaus. Eine Gestalt sitzt am Ende des Vordachs. Judith kneift die Augen zusammen. Jetzt dreht die Gestalt den Kopf ein wenig, die Zigarettenglut erleuchtet schwach ihr Profil. Laura, das Mädchen mit den verfilzten Rastalocken. Unverhoffte Chancen soll man nutzen. Judith zieht sich an und schwingt sich aufs Vordach. Das Mädchen schreit leise auf, als Judith sie an der Schulter berührt.
»Hallo, Laura, guten Morgen, darf ich?«
Das Mädchen starrt sie sprachlos an, als sei sie eine Erscheinung, nestelt schließlich zwei winzige Kopfhörer aus seinen Ohren. Judith nimmt die Geste als Einladung und setzt sich neben Laura auf das klamme Holz. Es ist ein perfekter Platz für eine heimliche Zigarette. Das Vordach liegt vom Haupthaus abgewandt, auch wer unten entlanggeht, sieht nicht, dass hier oben jemand sitzt.
»Hast du mal Feuer?« Ein uralter Trick, ein internationaler Code, mit dem Raucher sich verbünden in ihrem Verlangen nach Nikotin. Und es klappt auch diesmal, gehorsam kramt Laura ein Einwegfeuerzeug aus der Jacke und hält es Judith hin.
»Danke.« Judith inhaliert, scheinbar völlig auf das Rauchen konzentriert. »Das ist ein cooler Platz hier.« Sagen Jugendliche heutzutage überhaupt noch cool, wenn sie etwas gut finden? Sie zieht erneut an ihrer Zigarette, als gäbe es nichts Wichtigeres.
»Man darf hier im Aschram eigentlich nicht rauchen.«
»Mhm.« Noch ein Zug. »Warum eigentlich nicht?«
»Wegen der Schwingungen und so. Heiner sagt, dass alle Gifte die Atmosphäre verunreinigen und unseren Weg zum Göttlichen blockieren. Weil sie die Energiemeridiane im Körper verschließen.«
»Und warum rauchst du dann?«
»Weiß nicht. Ich mag’s einfach. Und solange es keiner merkt.«
»Ich verrate dich bestimmt nicht.« Im Stockfinsteren sitzen sie nebeneinander. Und vielleicht ist das sogar gut. Vielleicht gehört Laura zu jenen Menschen, die die gesichtslose Anonymität eines Telefongesprächs oder Internet-Chats brauchen, um sich zu öffnen. Wenn sie überhaupt etwas zu sagen hat. Aber davon ist Judith überzeugt. Es liegt an der Art, wie Laura sich im Aschram herumdrückt, an dieser Mischung aus Trotz und Verlorenheit, die sie ausstrahlt. Und natürlich liegt es auch daran, dass der rothaarige Kermit das Mädchen so aggressiv bewacht. Laura macht eine Bewegung, als wolle sie aufstehen. Automatisch legt Judith ihr die Hand aufs Knie, fühlt, wie Laura augenblicklich erstarrt, ein wildes Tier, das sich tot stellt. Sie nimmt die Hand wieder fort.
»Entschuldige.«
»Ich bin manchmal gern allein.« Das
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