Der Wald ist schweigen
sofort tot.
Es ist nach Mitternacht, als Judith auf Socken in Heiner von Stettens Büro schleicht. Der Duft nach Räucherwerk liegt noch in der Luft. Das grünliche Licht des Aquariums ist die einzige Lichtquelle im Raum, die Fische reißen im stummen Protest die Mäuler auf. Judith streift die Latexhandschuhe über. Wenn jemand sie entdeckt, hat sie ihre letzte Chance vertan, aber wenn sie nichts riskiert, ist sie sowieso geliefert. Bemüht, kein Geräusch zu verursachen, tastet sie sich zur Fensterfront vor und zieht die schweren, bodenlangen Vorhänge zu. Erst jetzt wagt sie es, den schmalen Lichtkegel ihrer Taschenlampe über den Schreibtisch gleiten zu lassen. Er ist tadellos aufgeräumt, die Tabellen, an denen Heiner von Stetten am Morgen so eifrig herumgerechnet hat, sind verschwunden, nur die Rechenmaschine, eine grüne Bibliothekslampe mit Bronzefuß, drei faustgroße Halbedelsteine und der Computermonitor stehen auf der blank gewienerten Holzoberfläche. In einem Tischkalender sind akribisch alle Kursangebote, Therapiesitzungen und Vortragstermine notiert, doch keinerlei persönliche Daten. Keiner der Namen sagt Judith etwas. Während sie den Computer hochfahren lässt, öffnet sie die Holztüren des Schreibtischs und blättert im Eiltempo durch mehrere Ordner. Auch hier Fehlanzeige, keine Finanzpläne oder Teilnehmerlisten, nur Vorträge über Yoga und Meditation. Ein Kästchen auf dem PC-Monitor fordert sie auf, ihr Passwort einzugeben. Sie probiert es mit »Beate«, »Buddha«, »Yoga« und »Sonnenhof« – ohne Erfolg.
Nacheinander zieht sie alle Schubladen auf: Stifte, Locher, Briefumschläge, Schere – unspektakuläres Büromaterial, mehrere Packungen Tempotaschentücher, diverse Tarotsets, Räucherstäbchen. Das einzig Interessante ist ein Holzkasten mit Schlüsseln, offenbar das Reservelager für alle Eventualitäten. Sie steckt den Schlüssel mit dem Etikett »Hauptbüro« in ihre Hosentasche. Am Nachmittag hat sie vorgegeben, ein Buch verlegt zu haben, in der Hoffnung, so das Gespräch auf das Handy lenken zu können, das Diana Westermann im Sonnenhof abgegeben haben will. Vergebens. Immerhin hat sie so erfahren, dass es in einem der Regale einen Weidenkorb gibt, in dem alle Fundsachen aufbewahrt werden. Sie hält einen Moment inne und lauscht, bevor sie die Treppe hinaufschleicht und das Büro aufschließt. In diesem Raum gibt es keine Vorhänge. Sie schirmt den Lichtkegel der Taschenlampe mit ihrer Hand ab, erreicht tastend das Regal mit den Fundsachen, stößt sich den Oberschenkel heftig an einem der Schreibtische. Es tut höllisch weh, sie unterdrückt einen Fluch. Auf dem Boden kniend untersucht sie den Fundsachenkorb und schirmt dabei das Licht mit ihrem Körper vom Fenster ab. Haargummis, Bücher, ein Handtuch, eine Turnhose, zwei T-Shirts, ein Ohrring, ein Walkman und – ihr Herz macht einen Satz – ein Handy. Aber es ist silbern, nirgendwo ist auch nur die kleinste Spur eines Namenszuges zu entdecken. Zu früh gefreut.
Was nun? Die Adress- und Personendaten der Sonnenhofgäste werden im Computer verwaltet, das weiß sie vom Einchecken, aber vielleicht gibt es Personalakten von Mitarbeitern. Sie öffnet Schränke und Schubladen auf der Suche nach einer dieser guten alten Hängeregistraturen, die den Ermittlern in den wenigen, unrealistischen Kriminalromanen, die sie als Studentin gelesen hat, immer so sehr weitergeholfen haben. Wieder Fehlanzeige, dies ist schließlich das richtige Leben und es ist bereits halb zwei. Der Computer in Heiner von Stettens Büro fällt ihr siedendheiß ein. Nicht ausgeschaltet! Sie schickt den Lichtkegel über die hohen Holzregale. Korrespondenzen – es muss Ordner geben, in denen Briefe, die per Post kommen, abgelegt werden. Wieder öffnet sie den Aktenschrank. Sie blättert mehrere Jahrgänge »Briefe N – Z« durch. Nichts. Keine Spur von Andreas oder Juliane Wengert. Willkürlich versucht sie es unter »D«. Keinerlei Hinweis auf eine Darshan – was hat sie auch erwartet. Sie weiß ja nicht einmal einen Nachnamen. Geschweige denn, ob es Darshan überhaupt gibt.
Das Gefühl von Gefahr ist auf einmal so unmittelbar, dass sie die Taschenlampe ausschaltet und hastig die Schranktür zustößt. Eines der Fenster im gegenüberliegenden Gebäude ist jetzt erleuchtet. Auf Zehenspitzen hastet Judith zur Tür. Das Knirschen des Schlüssels im Schloss scheint tausendfach von den Wänden widerzuhallen, die Holztreppe knarrt unerträglich laut. Im selben
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