Der Wald ist schweigen
dieser Seelenstriptease begonnen hat? Judith weiß es nicht. Sie schafft es nicht, die Gesprächsführung an sich zu reißen, es ist, als ob alle Kraft aus ihr herausgeflossen sei seit sie in Heiner von Stettens Zimmer Platz genommen hat. Vielleicht verbrennt er ja auf seinem Altar ein Opiat. Ihm scheint es allerdings nichts auszumachen. Rund und wach und selbstzufrieden sieht er aus. Er fächert einen Stapel Tarotkarten in der Hand, nimmt eine, mustert sie kurz und hält sie ihr hin.
»Ich möchte, dass wir uns mit dem Thema Schuld beschäftigen.«
Es ist lächerlich. Sie will aufspringen, gehen. Sie sieht die Karte an. ›Der Gehängte‹, na wunderbar.
»Erhängen – das klingt nach einer gerechten Strafe, wenn wir schon von Schuld sprechen.« Erhängen. Auch eine Möglichkeit, diesem Elend ein Ende zu bereiten. Ihre Dienstwaffe besitzt sie schließlich nicht mehr.
Lächelt Heiner von Stetten? Sie kann es nicht erkennen.
»Nicht Er-hängen, Judith. Hängen. Loslassen. Der Gehängte ist ein Symbol für die Hingabe.«
Hingabe, großartig. »Ah ja?«
»Bauch und Füße befinden sich über dem Kopf, der Gehängte betrachtet die Welt also aus umgekehrter Perspektive. So wächst er über sein Ego hinaus – ein erster Schritt auf dem Weg zur Befreiung von destruktiven und eingrenzenden Lebensmustern.«
»Die Trauer um einen Freund ist wohl kaum ein Lebensmuster,«
»Dich selbst für etwas verantwortlich zu machen, woran dich keine Schuld trifft. Deinen Körper mit Giften zu malträtieren. Das sind schlechte Angewohnheiten, die es zu überwinden gilt.«
Bla, bla, bla. »Indem ich meditiere? Ihre – deine Frau sieht übrigens auch nicht gerade sehr gesund aus.«
»Beate. In jedem Leben, auch in jeder Beziehung, gibt es gute und weniger gute Zeiten. War Patrick verheiratet?«
»Er hatte eine Freundin.« Wieder hat er sie aus der Reserve gelockt. Warum hat sie Sylvia erwähnt? Judiths Lunge schreit nach Nikotin. Noch etwas anderes empfindet sie auf einmal: Wut. Eine unbändige Lust, den selbstgefälligen Heiner von Stetten an seinem albernen Baumwollkittel zu packen und seinen Kopf ins Aquarium zu tauchen, bis er um Gnade fleht.
»Wie geht es Patricks …« – eine kleine Kunstpause – »… anderer Freundin?«
»Ich weiß es nicht.«
Im Aquarium entsteht Unruhe. Ein kleiner, rot-blau gestreifter Fisch flieht vor einem größeren, schwarzen zwischen schleimige Algen.
»Du weißt es nicht.«
»Wir haben den Kontakt verloren.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht, was es bringen soll, darüber zu sprechen. Warum habt ihr Probleme, Beate und du? In eurem Prospekt steht, dieser Aschram hier sei die Erfüllung eures Lebenstraums.«
»Du weichst aus, Schwertkönigin. Warum beantwortest du meine Frage nicht?«
Sie hatte sich fest vorgenommen, für Sylvia da zu sein, sie hatte es Patrick ins offene Grab hinein versprochen, ein stummer Schwur, überwältigt von Schmerz. Aber sie hat es nicht geschafft. Keinen von Sylvias Anrufen hat sie beantwortet, sie hat seine Eltern nicht besucht und auch nicht seine Freunde. Weil man nichts geben kann, wenn man leer ist. Nichts geben und auch nichts nehmen, weil man Verlust nicht lindern kann. Nichts macht so einsam wie Trauer, hat einmal irgendjemand gesagt. Erst durch Patricks Tod hat Judith begriffen, wie wahr das ist.
»Du bist zu egoistisch. Du gönnst Patricks Freundin ihren Teil der Trauer nicht.«
»Was soll das denn heißen? Natürlich tue ich das.«
»Nein, das glaube ich nicht, das glaube ich ganz und gar nicht, Judith. Aber darüber sprechen wir in der nächsten Sitzung.«
Geschmeidig wie eine Raubkatze gleitet Heiner von Stetten aus dem Schneidersitz auf seine breiten, nackten Füße und öffnet die Tür.
»Bis morgen, Schwertkönigin, bis morgen, schlaf schön.«
Montag, 10. November
Nichts deutet darauf hin, dass an diesem Tag irgendetwas nicht nach Plan lauten könnte. Um halb sechs kommt Diana im Forsthaus an. Sie kocht Tee und schmiert sich Brote, schlüpft in ihre Arbeitskleidung und packt das Kartenmaterial und die Utensilien zusammen, die sie zum Holzvermessen braucht. Während sie in ihrem Jeep hinunter zum Sonnenhof fährt, um Ronja abzuholen, pfeift sie 5oer-Jahre-Schlager. Sie ist unschlagbar, unverletzlich, in den Lüften, verliebt. Das lange Wochenende mit Tom liegt wie ein Schutzschild zwischen ihr und ihren Ängsten der vergangenen Wochen. Und Ronja geht es gut, sie dreht sich wie ein Derwisch vor Freude, ihre Herrin zu sehen. Ein feiner
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