Der Wald ist schweigen
klingt wie eine Kampfansage.
»Das kann ich gut verstehen. Ich will mich hier auch nicht dauerhaft auf deinem Platz breit machen. Aber ich bin wach geworden und hatte schreckliche Lust zu rauchen. Dann sah ich dich da sitzen …«
»Ist schon okay.« Der Tonfall straft Lauras Worte Lügen.
»Das nächste Mal gehe ich in den Wald, damit ich dich hier nicht störe.«
»In den Wald? Wohin denn da?«
»Keine Ahnung, irgendwohin. Ich bin auch manchmal gern allein. Allerdings fänd ich es auch nicht schlimm, wenn wir hin und wieder hier zusammen eine rauchen. Ich finde dich nämlich sympathisch.« Und das entspricht der Wahrheit. »Ich glaube, wir rauchen sogar dieselbe Marke. Drum light, richtig?«
»War es seine Frau?« Die Frage kommt abrupt, als habe Laura innerlich lange mit sich gerungen und wolle die Sache nun so schnell wie möglich hinter sich bringen.
»Vieles spricht dafür, ja.«
Jetzt bedauert Judith, dass sie Lauras Gesicht nicht erkennen kann. Ganz still sitzt sie wieder da, als wäre sie plötzlich eingefroren.
»Alles in Ordnung, Laura?«
Keine Antwort.
»Weißt du etwas über die Sache? Kann ich dir irgendwie helfen? Ich würde dir gerne helfen, wenn du Hilfe brauchst.«
»Nein.« Laura springt auf. Tritt auf etwas, das knirschend zerbricht. »Scheiße, meine CD.« Hastig stopft sie die zerbrochene Hülle in ihre Jackentasche.
Judith wartet, bis Laura in ihr Zimmer geklettert ist, das Fenster hinter sich geschlossen und die Vorhänge zugezogen hat. Dann untersucht sie das Vordach systematisch mit der Taschenlampe. Was sie findet, lässt sie blitzschnell hellwach werden: zwei hauchdünn gedrehte Zigarettenkippen, wie sie sie unter der Sitzbank des Hochsitzes am Erlengrund gefunden hat. Und mehrere transparente Plastiksplitter.
Schlagartig ist die Erinnerung wieder da. Hans Edling hat gerufen, dass Millstätt sie sprechen wolle, gerade als sie genau so einen Plastiksplitter am Tatort in der Hand hielt. Und dann? Sie hat diesen Plastiksplitter danach nicht mehr gesehen, die beiden Ks haben in ihrem Bericht nichts davon erwähnt. Es gibt nur eine Erklärung dafür. Sie muss den Splitter in ihre Manteltasche gesteckt und dann vergessen haben. Einmal mehr hat sie versagt.
Unterschlagung von Beweismaterial. Das Gefühl aus ihrem Traum droht ihr die Luft zu nehmen. Der Sturz ins Bodenlose, das fliehende Pferd, etwas, das ihre Kehle zusammenschnürt, dass sie nicht einmal schreien kann. Niederlage – dieses höhnische Flüstern in der Luft. Wenn sie den Splitter vom Tatort noch findet, kann sie ihn nachreichen, zusammen mit dem violetten Stofffetzen, den die Försterin ihr gezeigt hat. Sie wird sich dadurch endgültig lächerlich machen. Doch wenn sie beweisen will, dass es eine Verbindung zum Sonnenhof gibt – das Mädchen Laura –, muss sie ihre neuen Fundstücke zu den beiden Ks bringen. Leider wird sie so auch offenbaren, dass sie immer noch ermittelt, sich also Millstätts Anordnung einmal mehr widersetzt. Andererseits: Wenn sie auch das neue Beweismaterial unterschlägt, hat sie sowieso jede Berechtigung verwirkt, sich Kommissarin zu nennen.
Es ist aussichtslos, sie kann nicht gewinnen. Das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, wird stärker und der Tag hat noch nicht einmal richtig begonnen.
***
Sonntagnachmittags gibt es Kaffee und Kuchen vom guten Villeroy-und-Boch-Wildrosen-Service im Wohnzimmer, das ist ein Ritual – egal, wie oft der Vater auch betonen mag, dass das unnötig ist. Aber den Kuchen isst er trotzdem, zwei Stück mit Sahne, ohne eine Miene zu verziehen. Als sie fertig sind, hilft Manni seiner Mutter, das Kaffeeservice und die Reste des Apfelkuchens in die Küche zu tragen und das Abendbrot vorzubereiten. Auch das ist ein Ritual. Vom Wohnzimmer wabert jetzt der beißende Qualm der HB-Zigaretten herüber. Sein Vater soll nicht rauchen, sagt der Arzt, aber sonntags macht er eine Ausnahme. Sonntags und wenn Fußball im Fernsehen kommt. Ein Flirt mit dem Tod. Manni wirft seiner Mutter einen schnellen Blick zu. Auch sie muss den Qualm riechen, tut aber so, als sei alles in Ordnung, dabei weiß Manni genau, dass sie sich vor jeder Zigarette fürchtet, die ihr Mann raucht. Manchmal hat Manni das Gefühl, sein Vater sei schon tot. Kein einziges Wort sagt er, als Manni von seinem neuesten beruflichen Erfolg berichtet, ein Schweigen, das seine Mutter wie immer durch zu viel und zu lautes Gerede über die Neuigkeiten aus Rheindorf wettzumachen versucht.
»Und stell dir vor,
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