Der Wald ist schweigen
gewesen, mindestens ein Jahr habe sie bleiben wollen. Natürlich könne er sich erinnern. Eine interessante junge Frau, man habe schon vorab per E-Mail korrespondiert, ein Mitarbeiter habe sie sogar vom Flughafen abholen wollen. »We care about our guests«, mehrmals wiederholt der Inder diesen Satz, beinahe beschwörend. Doch dann sei Darshan einfach nicht gekommen.
»Why?« Unwillkürlich schreit Ralf Meuser seine Frage in den Hörer.
»We don’t know«, erwidert der Inder höflich. »I’m very sorry, but we really don’t know.«
***
Binnen einer Stunde sind alle da, doch bis sie ihre Arbeit aufnehmen können, vergehen noch weitere zwei Stunden. Weil man vom Sonnenhof aus nur mit einem Allrad-Geländewagen zum Tatort durchkommen kann, parken sie weit oberhalb, an der B 55. Was bedeutet, dass sie ihr Gerät zu Fuß den Steilhang hinunterschleppen müssen. Schließlich erinnert das Gerenne und Gewusel rund um den Bombenkrater doch noch an die Geschäftigkeit eines Ameisenhaufens, ganz so, wie es sich für die ersten Stunden einer Ermittlung gehört. Beamte wickeln Absperrband um Baumstämme, während andere jedes Blatt auf dem Boden herumdrehen. Hans Edling nimmt die Personalien der Waldarbeiter auf. Karl-Heinz Müller pfeift ununterbrochen seine nervtötenden Schlager, während er die beiden Ks nicht aus den Augen lässt. Die Spurensicherer besprechen soeben letzte Details mit den beiden Froschmännern, die das Opfer bergen sollen. Danach werden sie die trübe, stinkende Brühe trotzdem Liter für Liter absaugen und durchfiltern müssen, was einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Von der schlammigen Wasseroberfläche bis zum festen Grund sind es etwa 1,80 Meter.
»Wenn wir Glück haben, holen sie unseren neuen Kunden wenigstens in einem Stück mit raus.« Karl-Heinz Müller zündet sich eine seiner unvermeidlichen Davidoffs an und streift Asche in einen verschließbaren silbernen Taschenaschenbecher, den er für solche Fälle stets parat hat. »Vielleicht haben wir ja Glück. Dieses Loch sieht mir nach verdammt wenig Sauerstoff aus. In der Regel wirkt das konservierend.«
»Die Hand ist aber nicht sehr konserviert«, sagt Manni.
»Beginnende Skelettierung an Gesicht, Händen und Unterschenkeln – das muss nicht heißen, dass der Rest des Körpers im gleichen Zustand ist«, widerspricht der Rechtsmediziner, ohne den Blick von den Froschmännern zu wenden.
Wie lange mag dieser Krater schon als Grab dienen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dieser Leiche und dem toten Andreas Wengert? Es wäre absurd, wenn es nicht so ist, denkt Manni und zerbeißt ein Fisherman’s Friend. Was hat die Krieger neulich behauptet, als sie ihn auf dem Parkplatz abgefangen hat? Es gebe so eine Art Abkürzung über einen Steilhang von der Bundesstraße zum Erlengrund, ein Handy hatte die Försterin dort angeblich gefunden. Soweit er sich erinnert, müsste das ungefähr hier gewesen sein. Er drängt die Gedanken an die Krieger und ihren Instinkt, der sie offenbar wieder einmal nicht getrogen hat, beiseite. Wichtig ist, dass er Schritt für Schritt vorgeht. Vielleicht hilft ihm ja auch die E-Mail-Korrespondenz der Wengerts weiter. Viel davon hatte er noch nicht gelesen, als der Anruf des Waldarbeiters ihn hierher beorderte, aber der Tag ist noch jung und erst einmal müssen sie die Bergungsarbeiten hinter sich bringen.
Die Froschmänner gleiten jetzt wieder in den Modder, einer taucht unter, während der Größere offenbar mit den Füßen Halt auf dem Boden findet. Zentimeter für Zentimeter holen sie den Körper aus seinem dunkelfeuchten Grab. Und tatsächlich scheint Karl-Heinz Müller Recht zu behalten – die Schultern der Leiche kommen zum Vorschein, offenbar macht sie keine Anstalten, in Stücke zu zerfallen. Manni hört, wie der Rechtsmediziner neben ihm geräuschvoll die Luft ausstößt und dann wieder scharf einatmet. Die Froschmänner kämpfen jetzt mit etwas, was sich auf dem Rücken der Leiche befindet: ein prall gefüllter roter Reiserucksack. Er scheint schwer zu sein, jedenfalls haben sie Mühe, ihn vom Rücken zu lösen und nach oben zu reichen. Endlich gelingt es ihnen, und wenig später können sie auch die Leiche auf die Plane hieven, die Karl-Heinz Müller am Kraterrand ausgebreitet hat. Eine Frau. Sie trägt ein tailliertes wadenlanges violettes Samtkleid und Doc Martens Stiefel, zwei geflochtene schmuddelig blonde Gretchenzöpfe ruhen auf ihrer Brust, leere Augenhöhlen starren aus dem knochigen
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