Der Wald ist schweigen
heilig. Sie nahm sich, was sie brauchte, sie kam, sie ging, in ihrem eigenen Rhythmus. Sie hielt nicht viel von Konventionen oder Treue, daraus hat sie nie einen Hehl gemacht.«
»Und Vedanja? Oder wen hat sie sonst noch ›wild gemacht‹?«
»Vedanja ist jemand, der Sicherheit braucht. Sehr beständig, sehr sensibel. Ich bin sicher, Darshan hat weder ihn noch jemand anderen nah genug an sich herangelassen, als dass sich daraus Liebe oder gar ein Mordmotiv hätte entwickeln können.«
»Das ist doch lächerlich und das sollten Sie als Psychologe wissen. In meinen Augen ist das geradezu ein klassisches Motiv. Ein Mann will mehr von einer Frau, als sie ihm geben möchte. Er bedrängt sie immer mehr, und wenn sie schließlich abhauen will, bringt er sie um. In der Presse steht dann: Familiendrama, Mord aus Eifersucht oder Verzweiflungstat aus Liebe.« Judiths Stimme klingt hart, sie fühlt, wie das Blut in ihren Schläfen pocht. »Als ob Mord und Liebe jemals vereinbar wären.«
»Ich glaube, Vedanja war nicht ihr Typ«, sagt Beate von Stetten.
Rote Haare, käsige Haut, wässrige Glupschaugen – Judith merkt, wie sich ihr Puls beschleunigt. Vedanja ist kein Frauentyp, da hat Beate von Stetten Recht. Aber hat auch er selbst das so gesehen, oder musste Darshan sterben, weil sie ihn verschmähte? Und was ist mit Laura? Ihre Körpersprache schien eindeutig zu signalisieren, dass ihr Vedanjas Aufmerksamkeit lästig war. Auf einmal fühlt sich Judith zu Tode erschöpft. Als hätte sie einen Marathon absolviert, nur um im Ziel festzustellen, dass jemand vergessen hat, die Zeit zu stoppen, so dass sie gleich noch einmal loslaufen muss.
»Wer war denn ›Darshans Typ‹?«, fragt sie im selben Moment, als das Telefon auf Heiner von Stettens Schreibtisch zu klingeln beginnt. Der Psychologe hypnotisiert seine Fische, während er den Hörer ans Ohr presst und zuhört.
»Also gut, Schwertkönigin«, sagt er, als er das Gespräch beendet hat. »Das war Lauras Mutter, die sich Sorgen macht, weil sie an unserer Rezeption erfahren hat, dass Vedanja verhaftet worden ist. Ich habe ihr versprochen, dass ich jetzt sofort nach ihrer Tochter sehen werde.«
Vom Tag ist nur noch ein hellgrüner Lichtstreifen unter grauen Wolkendecken übrig geblieben, als sie auf die Wiese treten, die Fenster des Gästehauses sind dunkle Höhlen. Wieder greift die atemlose Angst aus ihrem Albtraum so heftig nach Judith, dass es wehtut. Heiner von Stetten hingegen hat es nicht eilig. Er summt ein Mantra, während er aufreizend langsam die Holztreppe zum Gästehaus hinaufsteigt, an Lauras Tür klopft, wartet und noch einmal klopft. Endlich drückt er die Klinke herunter und schaltet das Licht an. Das Zimmer ist leer.
»Wo ist sie?« Judith drängt sich an ihm vorbei.
Sichtlich verwirrt schüttelt der Psychologe den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Vedanja hat doch gesagt, dass sie krank ist. Dass er ihr noch Tee gebracht hat …«
»Wann war das?«
»Weiß ich nicht mehr. Heute Mittag? Vielleicht ist sie nebenan.« Er beginnt Türen zu öffnen und den Namen des Mädchens zu rufen. Judith packt ihn am Arm.
»Wann haben Sie Laura zum letzten Mal gesehen?«
Er fährt sich mit den Fingern über die Glatze. »Ich weiß es nicht. Gestern. Sie war heute nicht bei der Meditation. Ich dachte einfach …«
»Trommeln Sie sofort Ihre Leute zusammen.« Die Angst ist heißes Blei in Judiths Magen. Sie müssen den Sonnenhof durchsuchen. Und den Wald. Sie müssen Vedanja zum Reden bringen. Absurderweise fällt ihr ein, dass sie außer einem Croissant den ganzen Tag nichts gegessen hat. Als ob es darum jetzt ginge. Sie reißt ihr Handy aus der Manteltasche und flucht. Kein Empfang. Sie braucht ein Telefon. Sie beginnt zu rennen, stolpert, fängt sich. Heiner von Stetten bleibt ihr dicht auf den Fersen. Sie erreicht sein Büro, reißt den Hörer von der Gabel, ohne die protestierende Beate von Stetten zu beachten.
»Ich will, dass keiner den Sonnenhof verlässt. Ich will, dass sich alle sofort oben im Yogaraum versammeln. Wenn es sein muss, werde ich persönlich jeden Winkel des Aschrams nach Laura durchsuchen.« Sie schreit den von Stettens ihre Befehle entgegen, während sie darauf wartet, dass Manni sich meldet.
Sie ist eine Jägerin, eine Amazone, zielgerichtet und effektiv bis in die kleinste Faser ihres Körpers. Nur ihre Angst lässt sich nicht abschalten. Die dunkle Ahnung, nicht mehr genügend Zeit zu haben, um Laura Nungesser vor einem Mörder zu
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