Der Wald ist schweigen
ich darf nicht wieder einschlafen, und für einen Moment ist die Panik wieder da, peitscht durch ihren Körper, ein heißer Strom. Dann wird alles schwarz und sie weiß, dass sie verloren hat.
***
Sie will mit Laura sprechen, sie muss mit Laura sprechen. Jetzt, nach allem, was sie von Hannah Nungesser erfahren hat, ist sie sicher, dass es ihr gelingt, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen. Und wenn sie Lauras Vertrauen gewonnen hat, kann sie diesen Fall lösen. Judith ruft Manni an, sobald sie sich von Hannah Nungesser verabschiedet hat. Er ist blendend gelaunt und siegesgewiss und bringt sie im Telegrammstil auf den neuesten Stand. Sie haben Vedanja verhaftet und vernehmen ihn in der Polizeiwache von Hans Edling. Vedanja hat eine Vorstrafe wegen schwerer Körperverletzung und ist offenkundig nervös. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn sie ihn nicht knacken können, sagt Manni.
»Gut«, sagt Judith. »Sehr gut. Eifersucht als Tatmotiv. Das deckt sich einigermaßen mit dem, was Lauras Mutter sagt, und dem, was ich selbst beobachtet habe. Er hatte ein Auge auf Laura und hat diesen Job offenbar sehr ernst genommen. Er hat das Mädchen regelrecht bewacht, wollte etwas von ihr. Vielleicht ist Andreas Wengert ihm in die Quere gekommen, also hat Vedanja ihn ins Schnellbachtal gelockt und getötet – genau dort, wo er und Laura sich heimlich trafen. Aber was ist mit seiner Verbindung zu Darshan?«
»Vielleicht hatte er was mit ihr. Dann wollte sie nach Indien, ihn verlassen – sie haben gestritten und dabei ist sie unglücklich gestürzt«, sagt Manni und sie kann seiner Stimme anhören, dass er die Tragweite seiner Äußerung gerade erst begreift. Das ist es endlich, könnte es sein. Die Verbindung zwischen beiden Opfern. Der Zusammenhang, den sie so lange gesucht haben.
»Ich muss mit Laura sprechen«, sagt Judith. »Sie muss mir sagen, was sie über Vedanja weiß.«
»Sie ist krank, sagen sie. Und ohne La Mamma ist das verboten.«
»Kein offizielles Verhör.«
Schweigen.
»Sie weiß etwas, etwas Entscheidendes. Komm schon, Manni.«
»Aber ich weiß von nix, okay?«
Mehr braucht sie nicht, sie gibt Gas, einen Moment lang zuversichtlich und entschlossen wie früher, eine Siegerin, die ihren Passat über den Asphalt tanzen lässt. Doch als sie den Sonnenhof erreicht hat, ist das Gefühl aus ihrem Albtraum wieder da. Das Entsetzen, zu spät zu kommen. Die atemlose Bedingungslosigkeit, mit der sie einer sich immer mehr beschleunigenden Jagd ausgeliefert ist und trotzdem nicht gewinnen kann. Das Gras im Schnellbachtal ist schon winterlich fahl, schwere Wolken kleben am durchsichtig schwefelgelben Himmel, die Gebäude des Aschrams liegen wie ausgestorben da. Unwirklichkeit, ein aus der Zeitrechnung gefallenes Szenar10. Auch das erinnert sie an ihren Traum, und das Gefühl der Dringlichkeit nimmt zu. Sie passen doch auf Laura auf, hat Hannah Nungesser zum Abschied gebeten, und ohne zu zögern hat Judith das versprochen. Aber was ist, wenn sie versagt? Was ist, wenn sie das Vertrauen des Mädchens nicht gewinnen kann? Das Wissen, dass mit Vedanja einer der Hauptverdächtigen vorläufig aus dem Verkehr gezogen ist, beruhigt sie nicht, kann sie nicht beruhigen, solange er nicht gestanden hat. Das ist das alte Dilemma: Jeder Ermittlungsfehler gibt dem wahren Täter Zeit, Spuren zu verwischen, zu fliehen oder, schlimmstenfalls, erneut zu töten. Und doch muss man Fehler als notwendiges Übel jeglichen Handelns in Kauf nehmen.
Sie steigt aus und atmet die frische kalte Luft des Tals in gierigen Zügen. Wer, wenn nicht Vedanja, kommt als Täter in Frage? Heiner von Stetten? Hatte er wirklich eine Affäre mit Darshan? Aber selbst wenn das so ist, deutet nichts, was Judith in den letzten Tagen beobachtet hat, darauf hin, dass er auch eine enge Verbindung zu Laura oder Andreas Wengert hatte. Sie läuft auf das Gästehaus zu, in dem Lauras Zimmer ist, aber sie kommt nicht weit. Wie aus dem Boden gewachsen steht Heiner von Stetten vor ihr. Er muss sie gesehen und ihr durch die Gartentür von seinem Zimmer im Haupthaus den Weg abgeschnitten haben.
»Dein Gepäck ist an der Rezeption, Schwertkönigin.«
»Ich möchte gern mit Laura sprechen.«
Der Sonnenhofleiter umfasst ihren Oberarm mit sanftem Druck. »Sie ist krank, Schwertkönigin. Sie will niemanden sehen.«
Judith unterdrückt einen Fluch. Ihre Chance, den Weg gegen den Willen des stämmigen Psychologen fortzusetzen, ist gleich null. »Ich finde, das sollte
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