Der Wald ist schweigen
retten, der keine Gnade kennt.
***
Es ist dunkel und sie ist allein. Sie hat einen üblen Geschmack im Mund und in ihrem Kopf hämmert der Schmerz. Die Erinnerung kommt ungebeten, in grellen, gehetzten Bildern, wie im Stroboskoplicht einer Diskothek. Sie ist gerannt. Jemand hat sie getragen und zu ihr gesprochen und sie mit namenloser Panik erfüllt. Jey, ihr Geliebter. Warum? Das nächste Bild ist ein Lichtstrahl, das Flüstern der Bäume, beständiges Knarren. Eine Bank, ein Glas mit bitterem Wasser, das ihr aus der Hand gerutscht ist. Wasser. Durst. Mühsam arbeitet Laura sich unter dem Deckenberg hervor. Sie ertastet etwas Hartes neben sich. Bretter, eine Wand aus Brettern. Sie lehnt sich mit dem Rücken dagegen. Schweiß strömt in Bächen über ihren Körper. Warum ist sie so schwach? Das Bedürfnis, sich einfach wieder auf das Matratzenlager fallen zu lassen und wegzudämmern, ist überwältigend, aber noch größer ist ihre Angst. Du bist mein, nie mehr lass ich dich los, hat er geflüstert. Du entkommst mir nicht. Aber sie will nicht seine Gefangene sein.
Sie ist ein Maulwurf. Zentimeter für Zentimeter erkunden ihre Hände ihr Gefängnis. Bretterwände, viel zu nah, Bank, Glasscherben und Nässe, eine Hakenleiste, ein Tuch an der Wand, eine Vertiefung dahinter, etwas steht darauf. Eine Kerze. Die Hoffnung auf Licht jagt ihr neue Hitzeschauer durch den Körper. Es dauert ewig, bis sie ihre Kleidung findet, halb vergraben unter den Decken. Kein Feuerzeug, die Taschen ihrer Fleecejacke sind leer. Aber in der Innentasche ihrer Jeans steckt noch ein Streichholzbriefchen – das hat er also nicht gefunden. Lauras Hände zittern so stark, dass es ihr erst im dritten Versuch gelingt, die Kerze zu entzünden.
Augenblicklich erkennt sie, wo sie ist. Jey hat sie schon einmal hierher gebracht, ganz zu Anfang, als ein Gewitter sie im Wald überrascht hatte. Ein alter Hochsitz, den er mit Brettern zum Baumhaus verschlossen hat. Verborgen in der Krone einer Buche, weit weg von allen Wegen. Mein Nest, mein Heiligtum, hat er gesagt. Niemand darf hier sein ohne mich. Er hat das Vorhängeschloss sorgfältig abgesperrt, bevor sie nach ihrer Pause die Leiter wieder heruntergeklettert sind. Damals hat Laura das romantisch gefunden, aufregend, jetzt erfüllt es sie mit Angst. Wenn niemand ohne ihn hier sein darf, warum hat er sie hier allein gelassen? Und was geschieht, wenn er zurückkommt? Oder kommt er nicht zurück und lässt sie hier einfach sterben?
Die Tür gibt keinen Zentimeter nach. Daneben sind Schattenrissbilder an die Wand gemalt. Er. Und eine Frau, lebensgroß im Profil. Sehr schön, sehr schlank, den Kopf in den Nacken geworfen, dass ihre Brüste sich heben und die langen Zöpfe wild über ihren Rücken tanzen. Das ist niemand, das ist nur ein Traum, Laura, hat Jey damals gesagt, als er merkte, dass sie den Blick nicht von der Frau lösen konnte. Laura stellt die Kerze auf den Tisch und steht auf. Sofort springt ihr eigener Schatten neben die Frau. Sie hätte das damals schon erkennen können, warum war sie so naiv? Dieses Wandbild ist kein Traum, er hat es nur malen können, weil die Frau, der der Schatten gehört, hier mit ihm in seinem Heiligtum war. Wer ist diese Frau? Und was ist mit ihr passiert?
Alles in Laura schreit nach Flucht. Sie wirft sich gegen die Tür und verliert das Gleichgewicht, tritt mit der nackten Ferse in eine Scherbe. Es tut höllisch weh und blutet. Stark. Sie reißt das Tuch von der Wand, wickelt es um die Wunde. Beinahe sofort ist es durchweicht. Tränen laufen ihr über die Wangen. Warum hat sie nicht aufgepasst? Warum macht sie immer alles falsch? Plötzlich ist die Erinnerung wieder da an jenen glücklichen Nachmittag im Regen, den sie hier mit Jey verbrachte. Immer wieder musste sie die Augen schließen und dann hat er Dinge für sie herbeigezaubert. Wein, Nüsse, Trockenobst, Räucherstäbchen, Massageöl. Er hat nicht gemerkt, dass sie geschummelt und ihn doch beobachtet hat. Laura fegt die Scherben beiseite und kniet sich auf den Boden. Vorsichtig betastet sie die Seitenwand der Bank und findet die fingerspitzengroße Vertiefung. Sie steckt den Finger hinein, drückt, und die Sitzfläche schwingt auf.
Kein Wein, keine Nahrung, sondern ein Motorradhelm und eine schwarze Lederjacke liegen im Inneren. Andis Helm, Andis Jacke. Warum hat sie ihn betrogen? Warum musste er sterben? Wer hat ihn in ihrem Namen mit einer E-Mail in den Tod gelockt? Zitternd presst Laura die Jacke
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