Der Wald ist schweigen
auf die Tour. Täuschst vor, dass Laura krank ist und in ihrem Zimmer liegt …« Abrupt wechselt sie den Tonfall, schmeichelt jetzt. »Komm schon, Vedanja, hilf mir, dein Mädchen zu finden. Sag mir, wo Laura ist, und dann lass ich dich in Ruhe.«
»Laura ist weg?« Er schreit. »Aber sie ist krank! Sie hat Fieber!«
»Wo ist sie?«
Die Sorge reißt ihm die Finger aus dem Gesicht. »Im Bett.«
Judith Krieger schüttelt den Kopf, durchbohrt ihn mit ihren seltsamen türkisgeränderten Augen. Auf einmal wird ihm klar, dass sie nicht nur wütend ist, sondern zu Tode erschöpft und besorgt. Die Sommersprossen in ihrem Gesicht sehen aus wie dunkle Schlammspritzer. Seine Gedanken überschlagen sich, er kriegt keine Luft mehr. Laura ist verschwunden, obwohl sie krank ist. Und er, in seinem ewigen Bemühen, zu gefallen, in seiner falsch verstandenen Solidarität zu seinen Mitbewohnern, zu seinem Aschram, hat das zugelassen, weil er sich nicht um sie gekümmert hat. Was soll er Hannah Nungesser sagen? Er sieht Judith Krieger immer weiter an, erkennt, wie sich die Panik, die ihn jetzt ergreift, in ihrem blassen Gesicht widerspiegelt. Als sie wieder zu sprechen beginnt, ist ihre Stimme heiser.
»Wer?«
»Ben.« Das Wort beißt in seiner Kehle.
»Ben? Benjamin Roth? Der Schreiner?«
Vedanja nickt.
»Weißt du, wo er sie hingebracht haben könnte?« Die Kommissarin springt schon auf, während sie diese Frage stellt. Wenn er ihr nur helfen könnte! Er wünscht es so sehr, aber er kann es nicht, weiß es nicht. Judith Krieger streckt ihm die Hand hin, ohne nachzudenken ergreift er sie. Ihr Händedruck ist fest und angenehm kühl.
»Trotzdem – danke.«
Im nächsten Moment ist er allein.
***
Lichter. Rufe. Hundegekläff. Die Bullen sind überall. Was nur bedeuten kann, dass sie Laura suchen. Oder ihn? Vedanja, diese Memme, denkt er. Ich hätte mich um ihn kümmern müssen, hätte nicht zulassen dürfen, dass es so weit kommt und die Bullen ihn verhaften. Bestimmt hat er gesungen, obwohl er mir versprochen hat, das Maul zu halten. Das zumindest war nicht weiter schwer gewesen, ein bisschen Geschwafel, fa, Vedanja, ich weiß ja, dass ich eigentlich nichts mit ihr hätte anfangen sollen, aber es ist nun mal passiert, wir lieben uns. Und jetzt, wo Laura so krank ist, lass mich doch bitte für sie sorgen, sie braucht das, verrat uns nicht. Klar hatte Vedanja ihn nicht hängen lassen, schließlich ist er Sozialpädagoge. Und außerdem hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er Laura angegrabbelt hat.
Ich hätte ihn erschießen sollen, wie den anderen, Bens Hand krampft sich um die Flinte der Försterin. Wieder sieht er Darshans Gesicht vor sich, unwillkürlich. Ich fahre nach Indien, hat sie gesagt. Allein. Lass mich gehen, Ben, das ist mein Weg. Und er dachte, sie würde ihn lieben. Idiot, denkt er. Erinnert sich plötzlich an Anna, seine große Liebe, als er 18 war. Auch sie hat ihn verlassen – oder verlassen müssen, wegen ihres Vaters? Er wird es nie erfahren, aber manchmal, wenn er Laura in den Armen hielt, war es wie mit Anna. Ein Geschenk des Schicksals, eine Wiedergutmachung, dachte er, und natürlich hat er dieses Geschenk des Schicksals angenommen und geheiligt.
Und jetzt hat sie es kaputtgemacht. Laura, seine Göttin. Hat nach ihm getreten, wollte vor ihm fliehen. Unten im Tal schwärmen die Lichter noch weiter aus. Wie lange wird es dauern, bis die dort unten sein Versteck gefunden haben, sein Heiligtum? Können die Hunde seine Witterung aufnehmen? Werden sie einfach schnurstracks den Weg zu seinem geheimen Ort finden? Es hat geregnet, fällt ihm ein. Morgens, als er sein Heiligtum mit der schlafenden Laura darin verschlossen hat. Wie lange hat es geregnet? Lange genug? Wie lange muss es regnen, damit seine Spuren verwischt sind?
Er hat keine Chance. Die Erkenntnis durchzuckt seinen Körper wie ein elektrischer Schlag. Noch ist er ihnen überlegen, weil er den Wald kennt, seinen Lieferwagen gut versteckt geparkt hat, sich hier hoch auf diesen Aussichtspunkt geschlichen hat. Aber er hat keine Chance, mit seiner Göttin zu leben. Der Morgen wird kommen, wird noch mehr Bullen ins Tal spucken, und sie werden nicht ruhen, bis sie sein Versteck gefunden haben, bis sie Laura gefunden haben. Ihn. Sie werden nicht ruhen, bis sie alles kaputtgemacht haben. Die dafür nötige Entschlossenheit hat er in den Augen der Kommissarin Judith Krieger gesehen. Eine Kämpferin. Sie wird ihn nicht in Ruhe lassen. Er spuckt
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