Der Wald ist schweigen
über die Türklinke. Gleich, gleich wird sie Dianas Jeep hören, Diana wird aussteigen, Ronja wird aus dem Wagen springen, und dann ist alles gut. Diana wird sie beschützen, sie wird wissen, was zu tun ist. Die Polizei rufen, was auch immer.
Das tiefe Brummen eines Automotors röhrt durch die Nacht, kommt näher. Eine neue Welle der Erleichterung flutet durch Lauras Körper. Sie macht ein paar Schritte zur Auffahrt hin, will Diana entgegengehen, aber bevor der Wagen am Forsthaus angekommen ist, verstummt das Motorengeräusch.
Blinde Panik erstickt Lauras Erleichterung. Wer auch immer dieses Auto lenkt, ist nicht Diana, denn die würde ihren Jeep in die Garage fahren. Er. Jey. Die Gewissheit ist absolut und kalt wie Eis. Jetzt knirschen eilige Schritte auf dem Schotter, der Strahl einer starken Taschenlampe kriecht den Berg herauf, frisst sich durch die Dunkelheit, findet Laura, will sie festhalten. Aber diesmal ist sie kein Reh, diesmal weiß sie, was passiert, wenn sie sich festhalten lässt. Sie rennt los, rennt den Fahrweg zum Sonnenhof hinunter, ins schützende Dunkel des Waldes. Sie rennt um ihr Leben.
***
An der Abfahrt zum Sonnenhof steht ein Polizeiauto mit blinkendem Blaulicht. Diana bremst und lässt das Fenster herunter.
»Was ist los?«
Die Polizistin ist jung, kaum älter als 20, und tritt von einem Bein aufs andere, als ob sie friert. »Wir suchen ein Mädchen aus diesem Seminarzentrum da unten, Laura Nungesser.«
»Laura?« Eben noch war Diana entspannt, jetzt zieht sich alles in ihr zusammen. Laura. Kleine Schwester. Bitte nicht.
»Kennen Sie sie?« Die Polizistin sieht Diana aufmerksam an.
»Ja. Was ist passiert?«
Das Funkgerät im Polizeiauto krächzt einen Schwall Wortsalat ins Auto. Die Polizistin macht eine ungeduldige Handbewegung, mustert das Forstamtsemblem in Dianas Windschutzscheibe und scheint zu dem Schluss zu kommen, dass sie Diana vertrauen kann.
»In diesem Tal sind zwei Morde geschehen. Jetzt ist ein Mädchen verschwunden. Ein Mann ist dringend tatverdächtig und flüchtig.«
»Wer ist tatverdächtig? Jemand aus dem Sonnenhof?«
»Benjamin Roth. Er führt da unten eine Schreinerwerkstatt.«
Sie muss etwas sagen. Aufhören, die Polizistin anzustarren. Es gelingt ihr nicht. Die Polizistin winkt mit dem Arm in Richtung Straße.
»Mehr darf ich nicht sagen. Fahren Sie jetzt bitte weiter, und wenn Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches auffällt, rufen Sie uns an.«
Später kann Diana sich nicht erinnern, wie sie sich von der Polizistin verabschiedet hat und ihren Jeep über die Bundesstraße durch Unterbach und schließlich auf die Zufahrt zum Forsthaus gefahren hat. Bilder wirbeln durch ihren Kopf, eine rasende 3D-Multivisions-Show, die sie nicht stoppen kann. Der Hochsitz am Erlengrund, die Krähen. Laura, wie sie sich eine Zigarette dreht und mit Ronja herumtollt. Die Bar in Köln. Tom. Bäume, die Augen haben. Kates Tochter und Rob. Blonde Zöpfe im Schlamm. Tamara. Diana selbst, wie sie durch den Wald rennt und verzweifelt nach Ronja ruft. Das unheimliche, horchende Atmen in ihrem Telefon. Und dabei hatte sie gerade noch geglaubt, das Schlimmste sei vorbei. Zum ersten Mal haben ihre Kollegen sie heute mit ins Wirtshaus genommen. Ein grotesk hässliches Gebinde aus Rosen, Farn und schweinchenrosa Nelken haben sie ihr dort überreicht. Man hatte sie ein bisschen foppen wollen, sie mit ein paar Anrufen durchs Revier gescheucht. Beschämend sei das im Nachhinein, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass sie gleich zwei Leichen gefunden hat. Ob sie ihnen noch eine Chance gibt, haben sie gefragt. Wie nett – im Nachhinein.
Natürlich hat sie nicht nein gesagt. Und mit der Drohbotschaft aus Schafsblut auf ihrem Hochsitz und mit den nächtlichen Anrufen hätten ihre Kollegen nichts zu tun, das haben sie geschworen. Und keiner von ihnen hätte ihren Hund entführt.
Noch mehr Bilder wirbeln aus Dianas Unterbewusstsein: Ben, wie er vor Ronja niederkniet und ihren Bauch krault. Wie die Hündin seine Hände leckt, während Diana ihn nach dem Verbleib des Handys fragt, das sie Vedanja gegeben hat. Wie komisch Ben sie da angesehen hat. Hat die Polizistin Recht? War er es? Ist er in Dianas Haus eingebrochen? Hat er Ronja entführt? Ben? Diana glaubt das Adrenalin förmlich auf ihrer Zunge schmecken zu können, als ihr bewusst wird, dass dies erklärt, warum Ronja nie angeschlagen hat.
Als würde die Hündin im Fond des Wagens Dianas Unruhe spüren, beginnt sie zu bellen und
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