Der Wald ist schweigen
aus. Auch sie hat sich an Laura rangeschmissen. Das hätte er unterbinden müssen. Hätte. Zu viel ›hätte‹. Keine Chance.
Er hat wirklich keine Chance. Er setzt sich an einen Baum, klemmt die Flinte zwischen die Knie, presst den Lauf an die Stirn. Nur eine kleine Bewegung mit dem Zeigefinger und er muss nicht mehr an Darshan denken, an das Entsetzen in ihrem Gesicht. Muss nicht mehr mit der Erinnerung an Lauras ersten Freund leben, wie er um sein Leben bettelte und schwor, Laura nie mehr wiederzusehen. Aber warum hätte Ben ihm glauben sollen? Er hat schließlich genau beobachtet, was der Typ ein paar Wochen zuvor mit Laura auf dem Hochsitz getrieben hat, das Schwein. Trotzdem ist es nicht leicht gewesen, den jammernden Mann zu töten. Aber was hätte er sonst tun sollen? Er musste schließlich festhalten, was er liebt.
Er bewegt den Finger am Abzug ein winziges bisschen, lässt wieder los. Der Wind trägt das Geheul von Polizeisirenen über den Berg. Unten verlieren sich ein paar der Lichter im Wald. Irrt er sich, oder bewegen sie sich in Richtung seines Verstecks? Wieder jagt ein Adrenalinstoß durch seinen Körper und diesmal schreckt er ihn aus seiner Erstarrung auf. Vielleicht hat er ja doch noch eine Chance. Vielleicht irrt er sich und Laura liebt ihn nach wie vor, wartet schon auf ihn, will mit ihm leben, mit ihm fliehen. Sie könnten ein Auto aufbrechen und mit etwas Glück in weniger als zwei Stunden in Belgien sein. Ein neues Leben beginnen. Vielleicht in Südfrankreich. Oder in Marokko.
Bestimmt wartet sie schon auf ihn, wie konnte er nur an ihr zweifeln? Er muss sie retten, sie in die Arme nehmen und nie wieder loslassen, notfalls gemeinsam mit ihr sterben. Aber er muss schnell sein. Schneller als die Bullen. Er springt auf, hängt sich die Flinte über die Schulter und beginnt zu laufen.
***
Die Schrauben, die den Riegel halten, lassen sich nicht lösen, sosehr sie es auch probiert. Sie muss so dringend pinkeln, sie kann es nicht mehr einhalten. Sie hockt sich in die Ecke und pinkelt in sein Heiligtum. Wenn er das herausfindet, wird er es ihr nie verzeihen, seine Strafe wird furchtbar sein, aber ihre körperliche Erleichterung ist trotzdem riesengroß. Zum Glück versickert der Urin zügig in den Bodenritzen. Die Schrauben sind von außen mit Muttern fixiert, man müsste mit einer Zange dagegenhalten, plötzlich wird ihr das klar. Aber sie hat niemanden da draußen, der das für sie tun könnte. Sie kann nicht raus, sie ist gefangen. Verloren. Sie kann ihm nicht entkommen. Die Kerze beginnt gefährlich zu flackern, ist beinahe ganz heruntergebrannt. Bald wird sie im Dunkeln gefangen sein.
Die Erinnerung an die gespenstische Kälte in seiner Stimme hilft ihr, sich nochmals aufzubäumen, obwohl sie zittert, obwohl der Schmerz in Kopf und Hals um die Wette tobt. Wieder leuchtet sie die Wände ab. Wenn Jeys Versteck früher ein ganz normaler Hochsitz war, dann muss er auch Schießscharten gehabt haben. Schießscharten, Freiheit! Und sie hat Recht. Hier sind die Bretter heller. Und es gibt Schrauben. Und diese Schrauben kann sie aufdrehen!
Wie lange wird die Kerze noch brennen? Wie lange ist es her, dass er gegangen ist? Wann wird er wiederkommen? Die Angst treibt sie an. Jetzt hat sie die letzte Schraube aus dem Holz gedreht. Sie reißt das Brett heraus und kalte Nachtluft strömt in ihr Gefängnis, lässt sie noch mehr zittern, löscht die Kerze, gibt ihr trotzdem Hoffnung. Laura steckt den Kopf durch die Lücke, sie ist gerade breit genug dafür. Ist er dort unten? Jey? Raschelt da etwa Laub unter seinen Schritten? Lauras Herzschlag ist laut, viel zu laut. Sie wartet, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, atemlos. Jetzt ist das Rascheln weg. Der Wald ist still. Niemand da.
Links um die Ecke ist die Leiter. Wenn sie ihren Körper durch die Lücke zwängen und an der Außenseite bis zur Leiter klettern kann, ist sie gerettet. Oder sie kann runterfallen. Wieder hört Laura ein Rascheln. Bitte, bitte lieber Gott, lass das nur ein Tier sein! Sie hat keine andere Wahl, sie hat keine Zeit, sie muss es riskieren. Sie verstaut Darshans Handy gewissenhaft in Andis Geheimfach, zieht die Jacke aus, wirft sie durch die Schießscharte nach draußen und schiebt ihr zitterndes linkes Bein hinterher.
Einen fürchterlichen Moment lang – Sekunden, Minuten, sie weiß es nicht – glaubt sie, dass die Lücke zu eng ist, dass sie in der Schießscharte stecken bleibt, hilflos festgeklemmt wie
Weitere Kostenlose Bücher