Der Wald ist schweigen
eine Maus in der Falle. Dann ist sie durch, Splitter zerreißen ihre Handflächen und ihre Wange, sie droht zu fallen, klammert sich fest – und findet mit dem linken Fuß Halt auf einer der Bohlen, die Jeys Heiligtum im Baum fixieren. Ab jetzt ist die Kletterei ein Kinderspiel. Sie erreicht die Leiter und steht kurze Zeit später sicher auf dem Boden, kriecht in die tröstende Wärme von Andis Jacke, kriecht in einen Hauch seines Aftershaves, seinen allerletzten Gruß.
Sie flieht ins Dunkle, stolpert vorwärts, ertastet sich einen Weg zwischen harzigen Stämmen und spitzen Ästen, die nach ihr zu greifen scheinen. Wie weit ist es von Jeys Heiligtum zum Sonnenhof? Eine Viertelstunde? Eine Stunde? Sie kann sich nicht erinnern, verflucht ihre Unachtsamkeit. Wo ist die Straße? Warum hat sie damals nicht auf den Weg geachtet? Aber sie kann sowieso nicht zum Sonnenhof, weil er dort ist. Das Gelände wird steiler. Und plötzlich erinnert sie sich. Oben, halb auf dem Berg, ist das Forsthaus, sie sind daran vorbeigekommen, an jenem glücklichen Nachmittag, es war gar nicht weit weg von Jeys Versteck, höchstens eine halbe Stunde. Diana, denkt Laura. Wenn ich erst bei ihr bin, wenn ich es schaffe, das Forsthaus zu finden, dann bin ich in Sicherheit. Irgendwo schreit ein wildes Tier. Laura läuft schneller, obwohl ihre Ferse bei jedem Schritt schmerzt und blutet.
***
Sie hat ihn gelinkt, sein Vertrauen missbraucht, sein Heiligtum besudelt. Kleine Schlampe. Hat ihn auch noch beklaut – die Sitzbank ist ein offenes Maul, das ihn verhöhnt. Er leuchtet mit seiner Taschenlampe in jede Ecke. Unter der Decke findet er einen ihrer Pullover, atmet noch einmal ihren Duft. Der Boden ist nass. Er geht auf die Knie und schnuppert. Wasser. Nein, Urin. Noch nicht trocken, also ist es noch nicht lange her, dass sie sich davongemacht hat. Er wirft ihren Pullover zurück auf das Lager. Eine unbändige Wut treibt ihn die Leiter herunter. Wo kann sie sein? Die Tür zu seinem Heiligtum schlägt in einem trägen Windstoß hin und her, es interessiert ihn nicht mehr. Er weiß, dass er nicht zurückkehren wird. Ben hebt den Kopf, wittert, lauscht. Wo kann sie sein? Wie soll er sie finden? Er muss sie finden, sie darf ihm nicht entkommen, nicht sie, nicht auch noch sie.
Diana Westermann. Die Försterin, ihre Freundin. Da kann sie sein, das ist eine Möglichkeit. Mehr als eine Möglichkeit, oft und oft hat er sie da schon beobachtet. Es dauert endlose zehn Minuten, bis er den Lieferwagen wieder erreicht hat. Als er auf der Bundesstraße ist, überlegt er kurz, ob er es riskieren kann, direkt zum Forsthaus zu fahren, oder ob die Bullen sich auch dort postiert haben. Aber er hat keine Zeit zu verlieren, er hat überhaupt nichts mehr zu verlieren. Die Schneise, die den Zufahrtsweg zum Forsthaus kreuzt, fällt ihm ein, so könnte es funktionieren, und den Wagen kann er gerade noch außer Sichtweite vom Haus abstellen. Er tritt fester aufs Gaspedal und der Lieferwagen macht einen Satz. Ich krieg dich, du Schlampe. Der Silberbeschlag der Flinte auf dem Beifahrersitz glänzt im Licht der Armaturen.
***
Das Forsthaus ist dunkel. Dunkel und verschlossen. Wo ist Diana? Schläft sie? Ist es Nacht? Laura hat jedes Zeitgefühl verloren. Winzige Sterne sind an den Himmel gefroren, also ist es vielleicht wirklich mitten in der Nacht? Aber warum wacht Diana dann nicht auf, warum hört sie Lauras Läuten nicht? Die Erleichterung, diese unendliche unbeschreibliche Erleichterung, die Laura beim Anblick des Forsthauses empfunden hat, die sie das letzte Stück ihres Irrwegs durch den Wald vorwärts katapultiert hatte, verwandelt sich erneut in Angst. Wieder drückt sie auf die Klingel, länger jetzt, hört im Haus ihren Widerhall. Nichts rührt sich, kein Hundebeilen ertönt. Jede Bewegung jagt neue Schweißbäche über ihren Körper und macht ihre Knie weich wie Butter. Der Zweitschlüssel, den Diana sonst immer auf der Veranda verwahrt hat, ist nicht mehr da. Die Garage steht leer. Vielleicht ist es also gar nicht Nacht. Vielleicht kommt Diana gleich heim. Vielleicht gibt es Hoffnung.
Neben der Eingangstür steht ein Korb mit Fallobst. Laura isst einen Apfel, spuckt die fauligen Stellen aus. Es schmeckt eklig, aber der säuerliche Saft lindert ihren schrecklichen Durst, Sie nimmt noch eine Frucht. Der Schweiß läuft ihr immer noch in kleinen Bächen übers Gesicht. Die Kopfhaut unter ihrem Stirnband juckt. Sie reißt es sich aus dem Haar, hängt es
Weitere Kostenlose Bücher