Der Wald ist schweigen
Im Sonnenhof. In diesem Aschram, in den Laura Nungesser von ihrer Mutter geschickt wurde, damit das Mädchen die Affäre mit Ihrem Mann vergisst.«
»Warum hat er Andreas getötet?« Es ist unendlich schwer, das auszusprechen, aber sie zwingt sich dazu. Sie muss lernen, damit umzugehen, hat die Krankenhauspsychologin gesagt. Den Schmerz annehmen. Juliane Wengert merkt wie ihr wieder die Tränen kommen. Vermutlich hat die Psychologin Recht, aber es tut so weh.
»Soweit wir das bis jetzt rekonstruieren konnten, geschah die Tat aus Eifersucht. Der Täter liebte Laura Nungesser – die sich wiederum mit ihm auf eine Affäre einließ, sich aber zugleich noch heimlich mit Ihrem Mann traf. Der andere kam dahinter, lockte Ihren Mann in Lauras Namen ins Schnellbachtal und brachte ihn um.« Der Kommissar räuspert sich. »Er war sehr besitzergreifend, krankhaft. Einige Monate zuvor hat er bereits seine frühere Freundin umgebracht, Darshan, weil sie ihn verlassen wollte.« Wieder räuspert er sich. Er muss wirklich sehr müde sein, bemerkt sie. Unter seinen Augen liegen tiefe Schatten und er ist unrasiert. Eigentlich sieht er so aus, als hätte er die Nacht durchgemacht. »Es tut mir sehr Leid«, beendet er seinen Bericht.
Einen Moment lang schweigen sie beide, dann fällt ihr noch eine Frage ein.
»Ist er geständig?«
»Leider nicht.« Der Kommissar fährt sich erschöpft mit der Hand durchs Haar. »Er ist tot.«
»Tot?«
Korzilius nickt und sieht noch ein bisschen grauer aus. »Er hatte das Mädchen gekidnappt und wollte sie umbringen. Eine Forstbeamtin, die hinzukam, hat ihn erschossen und so dem Mädchen in letzter Sekunde das Leben gerettet.«
»Meine Güte.«
Der Kommissar nickt abwesend, den Blick aufs Siebengebirge gerichtet, das sich am Horizont über den Rhein erhebt. »Ziemlich dramatisch, ja.«
»Aber ist es denn erwiesen, dass er meinen Mann getötet hat?«
»Ja, da besteht kein Zweifel. Wir haben den Motorradhelm und die Brieftasche Ihres Mannes bei ihm gefunden. In den nächsten Tagen bekommen Sie seine persönlichen Dinge natürlich zurück und auch einen ausführlichen Bericht. Ich wollte Sie nur schnellstmöglich informieren, dass gegen Sie keinerlei Verdacht mehr besteht.«
Ich kann also gehen, denkt Juliane Wengert, als sie zwei Stunden später vor der Klinik in ein Taxi steigt. Ich bin frei, ich kann gehen. Aber wohin? Tagelang hat sie sich nach ihrer Villa gesehnt, nach ihrer Badewanne, ihrem Bett, nach dem Moment, wenn sie ein Feuer im Kamin entzündet und endlich allein ist.
»Wohin?«, fragt der Taxifahrer. Sie begegnet seinen Augen im Rückspiegel, es sind argwöhnische Schlitze.
Sie muss Todesanzeigen verschicken, Kondolenzschreiben beantworten, eine Beerdigung organisieren. Aber vor allem ist es der Gedanke an das, was sie nicht tun muss, der sie zögern lässt: aufräumen!
Zu Anfang, als Andreas bei ihr eingezogen ist und sie kaum die Finger voneinander lassen konnten, fand sie seine Unordnung charmant. All die Jacken, Schulhefte, Bierflaschen, Sportsocken, Schraubschlüssel, die auf einmal auf ihren Kommoden, Tischen, Böden herumlagen, sogar im Schlafzimmer. Später haben sie sich deswegen gestritten. Und jetzt ist die Vorstellung, dass es in ihrem Haus nie wieder seine Unordnung geben wird, mehr, als sie ertragen kann.
Sie nennt dem Taxifahrer die erste Adresse, die ihr einfällt, die ihres Frisörs. Beruhigt lässt er den Mercedes in den Verkehr gleiten. Aber sie selbst ist nicht ruhig, vielleicht wird sie das nie mehr sein. Sie nimmt ihr Handy und will jemanden anrufen. Aber sie weiß beim besten Willen nicht wen.
Sonntag, 16. November
Sie kann das Bild nicht vergessen, sie wird es nie mehr vergessen. Kein weißes Pferd. Kein Traum. Die Wirklichkeit. Diana Westermann kniet im Wald und hält Laura im Arm, wiegt sie sanft wie ein Kind. Ihr silbernes Haar verbirgt ihr Gesicht. Istjagutistjagutistjagut. Erst als sie sich zu ihr hinunterbeugen und der Hund endlich aufhört zu kläffen, verstehen sie, was sie da unablässig wiederholt. Und dann dauert es immer noch ein paar unerträglich grausame Sekunden, bis sie begreifen, dass nicht das Mädchen tot ist, sondern ihr Peiniger Benjamin Roth.
Sie sind zu spät gekommen, aber Laura lebt. Ich habe ihn erschossen, er wollte sie töten, Diana Westermanns Worte sind kaum zu verstehen und sofort verfällt sie wieder in ihren monotonen Singsang. Istjagutistjagutistjagut. Erst da erkennt Judith, dass sie diese Botschaft ebenso für sich
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