Der Wald ist schweigen
nicht da war. Und er schwört, dass er weder Laura noch einen Lieferwagen gesehen hat.«
»Wann?«
»Vor etwa einer Stunde.«
Wald rechts und links, undurchdringlich, dunkel. Der Passat holpert durch ein Schlagloch, schlammiges Wasser spritzt über die Windschutzscheibe.
Eine Stunde.
Viel zu viel Vorsprung für einen Täter, der sich in die Enge getrieben fühlt und ein Mädchen in seiner Gewalt hat. Judith krampft die Finger ums Lenkrad und versucht noch einmal zu beschleunigen. Sofort drehen die Reifen wieder durch.
»Scheiße!« Sie muss den Druck loswerden, diesen wahnsinnigen Druck. Sie werden zu spät kommen. Sie wird Hannah Nungesser über den Tod ihrer Tochter informieren müssen. Sie wird das nicht ertragen können.
Warum hat der Anfänger nicht am Forstamt gewartet? Warum ist sie nicht selbst dorthin gefahren, sie wusste doch, dass die Möglichkeit bestand, Laura dort zu finden? Neben ihr wirft Manni sein Funkgerät mit einem wilden Fluch auf den Rücksitz.
»Scheiß-Analogfunk! Warum müssen wir uns immer noch mit dieser Steinzeittechnologie abgeben?«
Es kommt ihr vor, als kröchen sie den Berg in Zeitlupe hinauf. Sie werden zu spät kommen. Die Männer sind irgendwo im Tal verstreut. Zu Fuß, und sie können sie nicht erreichen. Wieder drehen die Reifen des Passats durch. Lange. Zu lange. Manni steigt aus, versucht zu schieben. Sinnlos. Irgendwo bellt ein hysterischer Hund. Wortlos reißt Judith die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und beginnt zu laufen.
***
Er hat sie eingeholt. Er hat sie vom rettenden Weg zum Sonnenhof in den Wald gestoßen, hat sie an den Haaren gepackt und vor sich hergetrieben. Sie musste ihm gehorchen, muss ihm immer noch gehorchen, denn tut sie es nicht, wird der Schmerz unerträglich.
Zuerst hat sie geschrien, nie hätte sie gedacht, dass sie solche Laute in sich hat, dass es solche Laute überhaupt gibt. Vielleicht hat sie also gar nicht geschrien, vielleicht hat sie es sich nur eingebildet. Aber der Schmerz war echt. Er hat ihr den Kopf weit in den Nacken gerissen, ihr hart auf den Mund geschlagen.
»Still!« Ein grausam tonloses Zischen. Nichts ist mehr von seiner schönen Stimme geblieben.
Jetzt muss sie nicht mehr laufen, aber das ist noch schlimmer. Auf einer winzigen Lichtung hat er sie zu Boden geschleudert, hat sich auf sie geworfen und sein Atem hat ihr Gesicht verbrannt wie Feuer. Zuerst hat sie gedacht, er wolle mit ihr schlafen. Fast hat sie sich gewünscht, er wolle mit ihr schlafen, weil das bedeutet hätte, dass er ihr noch eine Chance gibt, denn jemanden, mit dem man Liebe macht, erschießt man doch nicht. Aber er wollte nicht mit ihr schlafen, wollte nur sichergehen, dass sie hört, was er ihr zu sagen hat. Dass sie versteht, wie enttäuscht er von ihr ist. Schlampe, Fotze, Hure. Verräterin. Ein endloser Monolog in dieser gespenstischen Stimme, und dass er dabei heult, ängstigt Laura nur noch mehr.
Dann hört er plötzlich auf zu reden, steht auf und greift das Gewehr. Und jetzt kniet sie vor ihm und weint. Sie schluchzt in harten, unkontrollierbaren Stößen, sie fleht und bettelt um ihr Leben, aber es ist, als ob er sie nicht hört.
Jetzt bellt ein Hund. Jey blickt sich um, aber nur einen Moment. Es ist zu spät. Sie entkommt ihm nicht. Jetzt legt er auf sie an und schießt. Angst und Schmerz explodieren in Lauras Kopf. Das Allerletzte, was sie wahrnimmt, ist ein gleißend helles Licht.
Donnerstag, 13. November
»Sie können gehen. Sie stehen nicht mehr unter Verdacht. Wir haben den Täter gefunden«, erklärt der Polizeibeamte Korzilius, der heute kein Gel im Haar hat und grau im Gesicht ist. Grau wie der Himmel vor dem Fenster des Krankenhauses.
»Wir möchten uns bei Ihnen für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die Ihnen entstanden sind.«
Unannehmlichkeiten. Was für eine Untertreibung, denkt Juliane Wengert. Er hat ihr Haus durchwühlt, sie verhaftet, hat sie tagelang mit seinen Verhören und Unterstellungen gequält. Unannehmlichkeiten! Das Wort ist so absurd unpassend, dass ihr einen Moment lang beinahe zum Lachen zu Mute ist. Aber sie kann nicht lachen »Wer ist ›wir‹?«, fragt sie stattdessen.
Er wird tatsächlich ein winziges bisschen rot und das macht ihn ihr zum ersten Mal einigermaßen sympathisch.
»Ich«, sagt er. »Ich möchte mich entschuldigen.«
»Wer hat …« Juliane Wengert zögert, aber er versteht sie auch so.
»Wer der Täter war?«
Sie nickt.
»Ein Schreiner, der im Schnellbachtal gelebt hat.
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