Der Wald ist schweigen
ihr, etwas, das nichts mit der makabren Verwendung des Toten als Vogelfutter zu tun hat, sondern direkt mit ihrem Traum zusammenzuhängen scheint. Womöglich hat der Täter gar nicht an die Krähen gedacht, als er die Dachbalken des Hochsitzes entfernte. Doch warum sonst hätte er das tun sollen? Was ist passiert in den letzten Lebensstunden des Blonden, was ist geschehen, dass er nackt auf einen Hochsitz mitten im Wald geraten ist? Sie müssen die Vermisstensachbearbeiter einschalten. Sie müssen alle Waldparkplätze überprüfen, ob irgendwo ein Fahrzeug steht, dessen Besitzer blond und unauffindbar ist. Sie müssen rausfinden, wer den Hochsitz benutzt.
Sie lässt das Dorf hinter sich und legt mehrere Kilometer zurück, ohne einem anderen Fahrzeug zu begegnen. Bäume stehen dicht an dicht, aus dem Straßengraben steigen Nebelschlieren, die im Licht der Autoscheinwerfer über die Straße treiben wie Zuckerwatte. Ihre Großmutter hat ein Bilderbuch gehabt, in dem die Feen und Elfen genau solche Mäntel trugen, Mäntel aus Nebel. Als Kind ist Judith nicht müde geworden, die Bilder zu betrachten. Sie sehnt sich plötzlich zurück in die Ferien ihrer Kindheit bei den Großeltern in Mecklenburg. Die wohlige Wärme der Kirschkernsäckchen, die die Großmutter aus dem Ofen geholt und ihr mit unter das schwere Federbett gegeben hatte, denn die Schlafkammer war nicht geheizt. Der Geschmack von DDR-Kakao und selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen. Der Arm der Großmutter um ihre Schultern, federleicht und doch so unerschütterlich in seiner Botschaft: Hier darfst du Kind sein. Hier wirst du geliebt. Bedingungslos.
Im Wagen ist es jetzt sehr warm und Judith merkt, dass ihr die Augen zufallen, obwohl ihre Füße immer noch eiskalt sind. Sie regelt die Heizung herunter. 25 Minuten später taucht die Senke der Kölner Bucht vor ihr auf. Der Himmel über der Stadt ist lachsfarben transparent, der Widerschein von Millionen Fenstern und Straßenlaternen. Diese Stadt wird einfach nicht dunkel genug, hat Martin in ihrem ersten Sommer geklagt, als sie die Nächte in Biergärten, an Lagerfeuern am Rheinufer oder eng umschlungen auf einer Matratze auf Judiths Dachterrasse verbrachten. Dabei möchte ich so gern mit dir die Milchstraße ansehen. Diesen Sommer sind sie nach Korfu geflogen und haben sich in einem abgelegenen Boarding House mitten in einem Olivenhain einquartiert. Nachts haben sie harzigen Landwein getrunken, den Zikaden zugehört und wenn sie die Milchstraße sehen oder Sternschnuppen zählen wollten, mussten sie einfach nur den Kopf in den Nacken legen. Es ist wunderschön gewesen und am Ende haben sie von Heirat gesprochen. Das Problem ist, dass ein gemeinsamer Blick in die Sterne nicht zwangsläufig genug Substanz für ein gemeinsames Leben bietet.
Der Rhein unter der Severinsbrücke hat leichtes Hochwasser, die Positionsleuchten eines Frachtkahns brechen sich rot und grün in der Strömung. Der Dom ragt aus der Altstadt, den anderen Gebäuden merkwürdig entrückt. Jetzt, von hier, aus dieser nächtlich distanzierten Perspektive, wirkt Köln schön. Nichts ist zu sehen von seiner vermurksten, schmuddeligen Nachkriegsarchitektur, nichts zu ahnen von der Gewalt, die die Existenz des KK II immer wieder aufs Neue rechtfertigt.
Vor Judiths Wohnung am Martin-Luther-Platz ist wie üblich kein Parkplatz frei, aber sie hat Glück und findet eine Lücke in einer Nebenstraße des Volksgartens. Das Geräusch von Menschen und Verkehr liegt über der Stadt, ein leises Summen, das sich an den fein modellierten Jugendstilfassaden der Häuser in der Volksgartenstraße bricht, die den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs überstanden haben. In Köln ist es deutlich wärmer als im Bergischen Land und ihr wird bewusst, dass sie den ganzen Tag gefroren und die Schultern verkrampft hat.
In ihrer Küche stehen noch die Reste ihres Frühstücks und die ungespülten Töpfe vom Vorabend. Auf dem Anrufbeantworter ist keine Nachricht. Judith schaltet den Backofen an, wärmt eine Spinatpizza auf. Sie duscht heiß, zieht zwei Paar Wollsocken an, eine bequeme Hose und einen ausgeleierten Pullover aus meerblauem Mohair. Die Depression frisst sich in ihre Wohnung, unaufhaltsam wie Sand in ein Ferienhaus, das zu nah an den Strand gebaut worden ist. Sie muss einen Weg finden, mit Manni klarzukommen. Sie muss mit Martin sprechen. Sie schneidet die Pizza in Achtel, streut Pfeffer und Oregano darüber und isst die Stücke aus der Hand, den Ellbogen auf
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