Der Wald ist schweigen
ihrer Mitbewerber lieber als Nachfolger gesehen hätten als sie, eine junge Frau, die die Zeit nach Studium und Referendariat im afrikanischen Busch verbracht hat und also unmöglich qualifiziert sein kann, ein deutsches Forstrevier zu leiten.
»Ich glaube, jemand will uns ärgern, Mädchen«, sagt sie zu Ronja, die sie nicht aus den Augen lässt. »Oder bin ich jetzt schon paranoid?«
Ich gehe einfach ins Bett, beschließt sie. Es hätte ja gut sein können, dass ich nicht da bin oder schon schlafe, den Anruf also gar nicht entgegen nehmen konnte. Und was, wenn sie nun tatsächlich mit einem aufgelösten Autofahrer telefoniert hat, der die Qualen eines verendenden Rehbocks möglichst schnell beendet wissen wollte und darüber ganz vergessen hat, seinen Namen zu nennen. Muss er sich halt an jemand anderen wenden, redet sie sich ein, die untere Jagdbehörde, die Polizei, den Schützenverein. Herrgott, ich habe auch ein Recht auf Feierabend. Jemand hat einen Bock angefahren. Die Stimme des Anrufers hat nicht aufgeregt geklungen, sondern merkwürdig beherrscht. Beinahe tonlos. Diana spült die Zahnpastareste aus dem Mund. Sie kann sich nicht erinnern, wann das mit den Anrufen angefangen hat. Vor ein paar Wochen? Monaten? Irgendwann im Spätsommer wahrscheinlich und zuerst hat sie sich nichts dabei gedacht. In letzter Zeit aber hat sie sich unbehaglich gefühlt, wenn sie nach solchen Anrufe hinaus in den Wald ging. Eine diffuse Verstörtheit, die sie nicht als Angst bezeichnen will. Manchmal sogar das Gefühl, beobachtet zu werden.
»Gehen wir schlafen«, sagt sie zu Ronja, aber ihr Körper gehorcht ihr nicht. Steht einfach immer weiter neben dem Telefon, die Zahnbürste in der Hand. Was, wenn jemand aus dem Forstamt hinter den Anrufen steckt? Beweisen will, dass sie ihren Pflichten nicht gewachsen ist, und also nur darauf wartet, dass sie solche Anrufe ignoriert? Sie könnte die untere Jagdbehörde selbst anrufen, dann kann ihr niemand vorwerfen, dass sie ihre Pflichten vernachlässigt. Jeder wird verstehen, dass sie nach einem Tag wie diesem nur noch ins Bett gehen will. Aber genau das ist das Problem. Vom Verständnis ist es nur ein klitzekleiner Schritt zum Mitleid.
»Wir schauen nach.« Diana streift ihren Parka über und schlüpft in ihre Gummistiefel. Auf gar keinen Fall wird sie sich unterkriegen lassen, in Afrika ist sie schließlich auch alleine klargekommen. Und Mitleid braucht sie ganz sicher nicht.
***
Irgendetwas verbergen die von Stettens, da ist sich Judith sicher, auch wenn Manni diese Meinung nicht teilt. Wie Ölsardinen haben die beiden Judith und Manni angeglotzt, während Judith die mageren Fakten herunterbetete und ihre Fragen stellte. Ohne Ergebnis. Es gibt keine Konflikte im Sonnenhof, es ist ein Haus, das allen offen steht. Niemand wird zu etwas gezwungen, die Gäste fühlen sich wohl, viele kommen nicht zum ersten Mal. Ein Mann, auf den die dürftige Beschreibung des Toten vom Erlengrund passt, ist im Sonnenhof nie gewesen, schon gar nicht in den letzten Wochen. Judith fährt langsam, die Rücklichter von Mannis Vectra sind längst in der Dunkelheit verschwunden. Und trotzdem ist etwas in dem Tal, das spürt sie einfach. Ein Auto überholt sie, kurz vor einer Kurve. Offenbar ist der Flirt mit dem Unfalltod im Bergischen Land eine Art Volkssport.
Sie erreicht ein Dorf, dessen Häuser sich dicht an die Bundesstraße drängen. Aus einigen Fenstern flackert bläuliches Fernschlicht auf den schmalen Bürgersteig, aber die meisten Bewohner schotten ihr Privatleben hinter heruntergelassenen Rollläden ab. Nicht einmal die Aral-Tankstelle hat noch geöffnet. Wir stellen uns das Leben auf dem Land immer freundlich vor, ein friedvolles Miteinander von Mensch und Natur, denkt Judith. Frische Luft, Rehe, die durch Vorgärten spazieren. Kinder, die in Bächen Rindenschiffchen schwimmen lassen und nach der Schule auf ihren Ponys spazieren reiten. Aber in Wirklichkeit besteht das Landleben aus der klaustrophobischen Enge zwischen Einbau-Schrankwand und Satelliten-TV, aus Argwohn gegen alles Fremde und aus Autolärm, weil die, die den Umzug aufs Land gewagt haben, nichts Besseres zu tun wissen, als sooft wie möglich wieder fortzufahren. Erneut überholt ein Auto sie mit hoher Geschwindigkeit.
Wer ist der Tote vom Erlengrund? Stammt er aus dem Bergischen Land oder ist er ein Fremder? Etwas an ihm ist zutiefst beunruhigend. Er wurde grausam zugerichtet, doch das ist es nicht. Etwas anderes nagt an
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