Der Wald ist schweigen
gereinigt, geölt und geladen. Sie überprüft die Waffe. Nicht geladen. Dianas Herzschlag dröhnt in ihren Ohren. Die Nacht liegt über den Fenstern wie eine schwere Decke. Nie zuvor ist sie sich so sehr der Tatsache bewusst gewesen, dass sie keine Nachbarn hat und dass die Zimmer im Obergeschoss des Forsthauses leer stehen. Niemand außer ihr und dem alten Hesse weiß von dieser Flinte. Und Hesse lebt jetzt bei seiner Tochter irgendwo an der kanadischen Westküste. Das Mädchen, denkt sie. Laura, die so vernarrt in Ronja ist. Ständig liegt sie mir in den Ohren, dass ich sie schießen lasse. Immer wieder taucht sie hier überraschend auf. Vielleicht hat sie gesehen, wie ich die Flinte gereinigt habe, hat sie heimlich aus dem Versteck geholt und damit geübt. Sie öffnet die Hahndoppelflinte und starrt in den Doppellauf. Rußpartikel. Also hat jemand damit geschossen? Aber wer? Hör auf, Gespenster zu sehen, befiehlt sie sich. Du hast die Flinte nachlässig geputzt und dann hast du auch noch vergessen, sie zu laden, so ist es. Sie angelt Patronen aus dem Nachttisch, lädt die Waffe neu und spannt den Hahn. Nimmt sie mit ins Wohnzimmer, legt Holz im Kamin nach, kocht eine Kanne Rooibos-Tee. Ronja liegt vor dem Kamin und zuckt mit den Pfoten, glücklich versunken in einen Hundetraum. Das Haus ist zu still.
»Komm, Mädchen.« Diana schultert die Flinte, nimmt die Teetasse und tritt auf die Veranda. Ronja strampelt und rappelt sich auf, drängt sich an Diana vorbei und jagt in übermütigen Sätzen durch den Garten, dass ihre Schlappohren nur so fliegen. Diana folgt ihr ein Stück und setzt sich auf den Gartentisch, lässt die Beine baumeln und atmet die frostige Nachtluft in tiefen Zügen. Das Pochen in ihren Ohren verebbt. Hier draußen fühlt sie sich leicht. Hier draußen haben ihre Gedanken den Raum, den sie benötigen. Der Mond ist halb voll und hat einen milchigen Hof. Sterne blinken kalkweiß über den Wipfeln der Bäume, ein paar Wolkenfetzen treiben über den Himmel. Hier draußen werden die Schatten erträglich. Der Hochsitz taucht wieder vor ihr auf, der Gestank, das rohe faulige Fleisch, die schreienden Krähen. Sie zwingt sich, immer weiter ein- und auszuatmen, die Bilder kommen und wieder gehen zu lassen. Andere Bilder kommen hinzu. Die Hochebenen Afrikas, zerfleischte Antilopen, Elefanten, denen man die Stoßzähne herausgebrochen hat, aidskranke Kinder. Die Schönheit, die es trotzdem gibt.
Als sie wieder ins Haus geht, ist sie sicher, dass sie gleich wird schlafen können. Plötzlich ist sie unendlich müde, schlimmer als nach einem Marathon. Sie verriegelt die Verandatür. Das Telefon beginnt zu klingeln, als sie sich gerade die Zähne putzt. Diana spuckt einen Schwall Zahnpasta ins Waschbecken, rennt ins Wohnzimmer und reißt, die Zahnbürste noch in der Hand, den Hörer von der Gabel.
»Jemand hat einen Bock angefahren, kurz hinter Oberbach, an der B 55«, sagt eine fremde Stimme. »Sie müssen ihn töten.«
Es kann eine Falle sein. Wer sind Sie, will Diana fragen. Von wo rufen Sie an? Aber bevor sie das erste Wort herausbringt, legt der Anrufer auf. Sie kann ihr Herz hören, harte Stakkatoschläge, bum, bum, bum. Ruhig, Diana. Sie klemmt die Zahnbürste zwischen die Zähne und ruft mit der Menü-Funktionstaste ihres Telefons die Anruferliste auf. Das Display charakterisiert ihren letzten Anrufer als »unbekannt«. Entweder hat er nicht mit einem ISDN-Anschluss telefoniert oder er hat die Anzeige seiner Rufnummer absichtlich unterdrückt. Sie hat die Stimme nicht erkannt. Eine Männerstimme, wieder einmal eine Männerstimme. Vor einiger Zeit hat sie im Forstamt vorsichtige Erkundigungen eingezogen, ob ihre Kollegen auch solche Anrufe erhalten. Allgemeines Kopfschütteln. Es gebe immer mal wieder anonyme Gefahrenmeldungen, und warum auch nicht, hat ihr Chef gesagt. Die Menschen hätten schließlich ein Recht, sich an die Revierförsterei zu wenden, wenn etwas im Wald nicht in Ordnung sei. Umgestürzte Bäume, Füchse mit Schaum vor dem Maul, zerstörte Umfriedungen, tote Rehe. Und manche Anrufer vergäßen in der Eile eben, sich mit Namen zu melden. Stimmt was nicht, brauchst du Hilfe, hat ihr Chef gefragt und Diana hat schnell den Kopf geschüttelt. Sie hat nicht gesagt, dass sich die anonymen Anrufe bei ihr in letzter Zeit häufen – und dass sie niemals das vorfindet, was die Anrufer ihr beschreiben. Sie weiß, dass einige ihrer Kollegen ihr das Revier des alten Hesse neiden. Dass sie jeden
Weitere Kostenlose Bücher