Der Wald ist schweigen
wurde?«
»Ja, so sieht es aus. Aber er ist nicht nackt auf diesen Hochsitz geklettert, da geh ich jede Wette ein. Er muss zumindest Schuhe getragen haben, die Fußsohlen sind nämlich relativ gut erhalten. Wenn er barfuß durch den Wald gelaufen wäre, dann gäbe es auch Spuren davon an seinen Fußsohlen – Dreck, Verletzungen, du weißt schon.«
***
Um zehn Uhr bringt der Briefträger die Post. Sie hört das Klappern der Briefklappe, dann das leise Rascheln, mit dem die Briefe im Flur aufs Parkett fallen. Was soll ich damit, denkt Juliane Wengert. Andreas ist nie ein großer Briefeschreiber gewesen, eher ein Mann der wortlosen Gesten. Eine Umarmung, die in leidenschaftlichem Sex auf einer öffentlichen Toilette oder in einem Gebüsch enden konnte. Ein ganzer Bund roter Rosen, die er aus einer Laune heraus einem dieser Inder abkaufte, die sich Nachts durch die Gassen der Altstadt drücken, ewig geduckt, ewig lächelnd. Die wenigen schriftlichen Mitteilungen, die Juliane Wengert von ihrem Ehemann erhalten hat, sind hastig gekritzelte Momentaufnahmen auf kitschigen Ansichtspostkarten, meist ohne Anrede. Nervensägen!!!! Aber das Bier ist auch hier nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut. Warte bloß, bis ich wieder da bin … – die Botschaft von einer Klassenfahrt in die Rhön. Oder Ahoi, meine Seemannsbraut, miss you, A. – von einer Wochenendtour mit Freunden nach Hamburg. Wie komisch, dass ich diese Texte auswendig kann, denkt Juliane Wengert, während sie sich in ihren seidenen Hausmantel hüllt. Kühler, fließender Stoff, eine Liebkosung auf der nackten Haut, ein Geschenk von Andreas zu ihrem 40. Geburtstag. So feudal hat sie sich immer gefühlt, wenn sie den Morgenmantel überstreifte. So kostbar. So schön.
Und jetzt? Steifbeinig geht sie in die Diele, ihr Kopf ist schwer, der Körper über Nacht gealtert. Sie muss nicht in den Spiegel schauen, um zu wissen, dass sie grauenhaft aussieht. Nicht einmal Nachtcreme hat sie benutzt, bevor sie, die leere Rotweinflasche umklammernd wie die Hände eines Geliebten, irgendwann eingeschlafen ist. Im Flur hält sie inne und sieht trotzdem in den Spiegel. Eine Angewohnheit. Eine schlechte Angewohnheit. Auf ihrer linken Wange entdeckt sie ein geplatztes Äderchen, zwischen den Augenbrauen und in den Mundwinkeln tiefe Falten, die Wimperntusche ist verschmiert. Mitesser an den Nasenflügeln. Grauenhaft sieht sie aus. Eine alternde Frau. Wann hat ihre Haut die Spannkraft verloren? Man sagt, dass man über den Wolken schneller altert und sie hat längst aufgehört die Flugmeilen zu zählen, die sie Jahr für Jahr zurücklegt.
Sie bückt sich und hebt die Post auf. Fühlt, wie ihre Brüste sich unter der schwarzen Seide bewegen. Hängebrüste. An dem Kindchen, mit dem sie Andreas auf dem roten Ledersofa erwischt hat, hat natürlich nichts gehangen. Wie Andreas die Kleine angesehen und die Hände um ihre spitzen … Sie versucht, das Bild zu verdrängen. Vorbei, vorbei, vorbei. Da, wo das Ledersofa gestanden hatte – ihr Lieblingssofa – steht jetzt ein neues von Ligne Roset, mit weißem Bezug. Als ob eine einmal verlorene Unschuld je durch irgendetwas zurückzuholen wäre. Mechanisch blättert sie durch die Post. Kreditkartenrechnungen. Eine Ansichtspostkarte aus Toronto von ihrer Freundin Anne. Der Vertrag für ihren nächsten Job in Brüssel. Der Werbeprospekt eines Pizzaservices, geschmacklos, in schreienden Farben.
Sie wirft die Post auf den Küchentisch, setzt Kaffeewasser auf. Noch drei Tage bis zum Ende der Herbstferien, sie sollte wirklich die Polizei verständigen. Als ich aus Rom zurückkam, war mein Mann immer noch nicht da, hört sie sich sagen. Aber was soll die Polizei schon darauf erwidern? Andreas hat schließlich Herbstferien. Und wenn sie erst feststellen, dass er zehn Jahre jünger ist als sie, werden sie sie sowieso für eine liebeskranke, klimakterische Hysterikerin halten. Sie werden sie verdächtigen und die Presse wird davon Wind bekommen, ihre Kunden und dann … Nein, dieser Schmach wird sie sich nicht aussetzen, jedenfalls nicht, solange es sich irgendwie vermeiden lässt. Sie gießt den Kaffee in eine Tasse und nimmt ihn mit hinauf ins Schlafzimmer. Schwarzer Kaffee am Morgen – schon ihre Großmutter hat geschworen, dass dies das beste Mittel für einen frischen Teint sei. Sie trinkt in kleinen Schlucken, aber es hilft nichts. Das Gesicht, das ihr aus dem Kosmetikspiegel entgegenblickt, sieht immer noch gespenstisch aus. Wieder
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