Der Wald ist schweigen
tritt ihr das Wasser in die Augen, aber sie drückt die Finger in die Augenwinkel, drängt es mit aller Macht zurück.
»Bitte«, flüstert sie, »bitte.«
Sie holt sich noch eine Tasse Kaffee aus der Küche und isst zwei Scheiben Knäckebrot und ein Joghurt mit Kokosnussgeschmack. Danach fühlt sie sich so weit gefestigt, dass sie einen weiteren Tag ohne ihren Mann in Angriff nehmen kann, und greift zum Telefon. Nach exakt 47 Sekunden hat sie ihren Frisör davon überzeugt, dass er sich noch am selben Tag zwei Stunden Zeit für sie nimmt.
***
Judith trifft Manni und Hans in Oberbach, im »Supergrill Rosi’s«. Ein Automat spuckt Cappuccino in braungeriffelte Plastikbecher, offensichtlich aus der gleichen Düse wie heiße Brühe, Zitronentee und Kakao. Der Milchschaum sieht unnatürlich glänzend aus. Trotzdem ist das Getränk eine definitive Verbesserung zu dem Kaffee im Präsidium. Sie bestellen Currywurst mit Fritten und sehen zu, wie die dauergewellte Küchenchefin die Friteuse bedient. Zwei Männer in Gummistiefeln kommen herein und ordern das Tagesgericht – Erbseneintopf mit Einlage.
»’n Bier dazu, Jungs?« Rosis Gesicht glänzt so rosig, wie es ihr Name verheißt. Sie schiebt die Teller in die Mikrowelle und flirtet mit ihren Gästen, Abgeklärt und routiniert. Eine Frau, die den Glauben an die Liebe schon vor vielen Jahren begraben hat.
»Morgen früh will Millstätt uns im Präsidium sehen.« Judith weiß nicht, wie sie das Gespräch sonst eröffnen soll.
» Ich war heute morgen da.«
Na toll, du Streber. »Und, was gab’s?«
»Nix Besonderes. Verstärkung können wir uns abschminken – die anderen rotieren immer noch wegen des Jennifer-Mords.«
»Auf uns könnt ihr jedenfalls zählen!« Hans Edling hat den Dialog aufmerksam verfolgt. Offenbar fühlt er sich dazu berufen, zwischen Judith und Manni zu vermitteln.
»Karl-Heinz Müller geht davon aus, dass das Opfer sich erst auf dem Hochsitz ausgezogen hat.« Judith beschließt, mit offenen Karten zu spielen.
»Vielleicht hatte er ein Rendezvous?« Manni trinkt einen Schluck von seiner Cola. »Ein Paar will ungestört sein und trifft sich auf einem Hochsitz? Macht man so was hier bei euch im Bergischen, Hans?«
»Ausgeschlossen ist es nicht. Aber immerhin ist schon Oktober, ziemlich frisch also – und der Erlengrund ist nicht gerade leicht erreichbar.«
»Aber wenn er sich für eine schnelle Nummer ausgezogen hatte, wie ging es weiter?«, fragt Judith. »Seine Gespielin sagt plötzlich ›warte mal, Schatz‹, klettert nach unten und ballert los? Ziemlich unwahrscheinlich, oder?«
»Vielleicht hat der Täter ein Liebespaar überrascht?«, sagt Edling.
»Aber die Ks sind sicher, dass sich das Opfer allein auf dem Hochsitz befand, als die Schüsse fielen.« Judith zieht sich noch einen Kaffee.
»Er könnte in eine Falle gelockt worden sein.« Manni starrt auf das Etikett der klebrigen Ketschupflasche, als gebe es Aufschluss über den Tathergang. »Der Täter zwingt ihn, auf den Hochsitz zu klettern, droht, zu schießen, wenn er sich nicht auszieht. Dann muss er seine Klamotten nach unten schmeißen, steht also in der Türöffnung – und bietet so eine wunderbare Zielscheibe.«
»Und vorher hat er Teile des Hochsitz-Dachs entfernt. Gut möglich. Aber dann wäre das definitiv keine Tat im Affekt, obwohl der Täter mehrfach abgedrückt hat. Und wo ist das Motiv?«
»Hass? Oder der Täter hat ganz einfach Glück gehabt, dass er so wenig Spuren hinterlassen hat.«
»Ziemlich viel Glück.«
Manni zuckt mit den Schultern. »Karin und Klaus haben ein paar Zigarettenkippen unter der Bank gefunden.«
»Von denen wir nicht wissen, ob sie überhaupt was mit dem Mord zu tun haben. Müller sagt, das Opfer war Nichtraucher. Und selbst wenn das Labor Speichelreste und Bruchteile von Fingerabdrücken analysieren kann, was wollen wir damit dann machen? Die Gesamtbevölkerung des Schnellbachtals auf Übereinstimmung testen lassen?«
Rosi bringt ihre Teller und sie beginnen zu essen. Die Pommes frites schmecken wie Pappmaché. Judith steht auf und holt einen Salzstreuer.
»Wir müssen rausfinden, wer das Opfer ist«, sagt sie. »Sonst kommen wir nicht weiter.«
»Es würde mich wundern, wenn es ein Einheimischer wäre, hier im Bergischen verschwindet man nicht unbemerkt.« Hans Edling spricht mit vollem Mund.
»Irgendeinen Bezug muss es geben.« Judith denkt wieder an ihren Traum. Dieses Gefühl, dass etwas in diesem Tal wartet. Dass die
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