Der Wald ist schweigen
Nächste Woche wissen wir dann mehr.«
»Verrat mir wenigstens, wie alt unser Kandidat war. Und was dir sonst noch aufgefallen ist. Alles, was mir bei einer Personenbeschreibung hilft.«
Müller seufzt und wirft seine Handschuhe in den Abfalleimer. »Kein aufmunterndes, privates Wort für einen fleißigen, müden Junggesellen. Nicht einmal ein Schulterklopfen. Nichts als Forderungen.«
»Das Leben ist hart.«
Judith versucht ein Lächeln, das misslingt. Schnell dreht sie sich eine Zigarette. Warum, verdammt noch mal, fangen ihre Finger an zu zittern. »Bitte, Karl-Heinz, mir ist heute überhaupt nicht nach Späßen zumute. Irgend etwas ist dir doch bestimmt aufgefallen.«
Müller, nun wieder ganz Kavalier, mustert sie scharf, kramt ein goldenes Feuerzeug aus der Hosentasche und gibt ihr Feuer. Sich selbst zündet er eine Davidoff an. Einer seiner beiden Assistenten steckt die Gläschen mit den Proben in Styroporkästchen und hüstelt demonstrativ. Müller scheint das nicht zu bemerken, er wirft noch einen langen Blick auf den Toten, dann wendet er seine Aufmerksamkeit Judith zu.
»Fakten also, weil du es bist. 1,85 groß, Schuhgröße 44, Gewicht 83 Kilo. Was noch übrig ist, jedenfalls. Fast kein Fett, viele Muskeln. Könnte sein, dass er Sportler war. Auf jeden Fall Nichtraucher und gut trainiert.« Er inhaliert tief. »Gott, was würde unsereins für so eine Lunge geben!« Er mustert seine Zigarette, schnickt die Asche in den Abfluss auf dem Boden und setzt sich in Bewegung in Richtung seines Büros. »Ja also, wie gesagt, ein durchtrainierter Bursche. Mehrere alte Knochenbrüche, einer war ein komplizierter Schienbeinbruch, typische Snowboarder-Verletzung. Meniskusoperation am linken Knie. Die Schultergelenkpfanne hat auch mal was abgekriegt – passiert ebenfalls oft beim Snowboarden.« Er hält einen Moment inne. »Könnte natürlich auch ein Motorradunfall gewesen sein. Oder was ganz anderes. Kaffee?«
»Danke, mit Milch. Ein sportlicher Typ also. Was ist dir noch aufgefallen?«
»Karies hatte er, aber gut behandelt, alles mit Gold. Sieht aus wie deutsche Wertarbeit, also arm war er wohl nicht.«
»War er Deutscher?«
»Ja, davon gehe ich aus, und wenn das nicht, dann hat er zumindest lange hier gelebt oder in Mittel- oder Nordeuropa oder in Amiland. Irgendwo, wo es fähige Zahnärzte gibt. Soll ich die Goldfüllungen analysieren lassen?«
»Ja, bitte! Im Moment klammern wir uns an jeden Strohhalm.«
»Röntgenaufnahme der Zähne hab ich dir schon machen lassen.«
»Prima. Danke.«
»Von seinem Gesicht haben die Vögel leider nicht so viel übrig gelassen. Aber ich vermute, dass er wenig Falten hatte.« Müller wird ernst.
»Über 30, würde ich sagen, nicht älter als 40. Genauer geht es momentan nicht. Aber ich persönlich würde so auf Mitte 30 tippen. Er hatte wenig Körperbehaarung für einen Mann. Aber alles Natur, nix abrasiert. Kein Schmuck, keine Tätowierungen. Wir haben versucht, seine Fingerabdrücke zu nehmen. Das Labor analysiert auch seinen DNA-Code, vielleicht habt ihr ja Glück, und es passt zu irgendwas, was ihr findet.«
»Was hatte er für Augen?«
»Das musst du die Krähen fragen. Er war blond, vielleicht waren seine Augen also hell. Blau.« Müller seufzt und tritt seine Zigarette aus. »Aber seine Augenbrauen waren ziemlich dunkel, also nagele mich bloß nicht fest darauf. Blau, grün, grau, braun – möglich ist wirklich alles.«
»Noch irgendwas?«
Erst sieht es so aus, als ob der Rechtsmediziner nicht antworten wolle. Dann gibt er sich einen Ruck. »In sehr gutem Zustand sind seine Finger ja nicht, aber ich bin relativ sicher, dass er am rechten Ringfinger längere Zeit einen Ring getragen hat. Eine kleine, kaum noch wahrnehmbare Druckstelle an der Unterseite. Der Ring war vermutlich aus Gold oder Platin, denn Oxidierungen, wie sie zum Beispiel durch Silber hervorgerufen werden, habe ich nicht gefunden. Vielleicht ein Ehering.« Er seufzt. »Diese Krähen – das Loch im Dach hat ihnen ihr Festmahl vermutlich noch erleichtert. Und der Schuss ins Gesicht. Der Täter wollte nicht nur töten, der wollte sichergehen, dass wir sein Opfer nicht identifizieren können, wenn du mich fragst. Kleidung oder Schmuck habt ihr ja immer noch nicht gefunden, oder?«
Judith schüttelt den Kopf.
»Ich bin natürlich noch nicht fertig mit der Untersuchung, aber bis jetzt habe ich keinerlei Faserspuren in den Schusswunden gefunden.«
»Er war also nackt, als er erschossen
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