Der Wald ist schweigen
Stövchen und Schokoladengebäck. In der Mitte des Arrangements thront eine hohe Vase mit weißen Lilien, selbstverständlich ist auch sie aus dem passenden, erkennbar teuren Porzellan gefertigt.
»Wir nehmen gern einen Tee«, hört Judith sich sagen. Das weiße Sofa ist bequem und sie verspürt das absurde Bedürfnis, sich einfach in die Rückenpolster sinken zu lassen, die leichte, orangefarbene Kaschmirdecke, die neben ihr auf dem Boden liegt, über sich zu ziehen und die Augen zu schließen. Egal, was sie morgens anzieht, ihr wird einfach nicht richtig warm und ihr Schlafdefizit ist immens. Merkwürdig gedämpft und abgeschnitten kommt sie sich vor, als ob ihr Körper in einer Art Sparmodus festgefroren sei. Mein Herz friert auch, hat sie vorhin auf der Toilette der Autobahnraststätte gedacht und sich erschreckt, wie blass und verschlossen das Gesicht aussah, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. Kieselsteinaugen, blank vor Müdigkeit. In den ersten Jahren bei der Mordkommission ist sie manchmal regelrecht erstaunt gewesen, dass die Toten sie nicht bis in den Schlaf verfolgten. Sie hat sich ängstlich gefragt, ob sie zu hartherzig ist. Wie das verlorene Paradies erscheint ihr das jetzt. Der Schlaf ist einmal mein Verbündeter gewesen, denkt sie. Zuverlässig, jede Nacht – meine Rettung aus einer Welt, in der die Menschen einander Dinge antun, allein aus einem einzigen Grund: Weil es möglich ist.
»Das Haus gehört Ihnen?« Manni hat auf der vordersten Kante des Sofas Platz genommen und sieht kein bisschen müde aus. Jeder Zentimeter seines schlaksigen Körpers scheint zum Sprung bereit zu sein.
»Warum fragen Sie? Hat das irgendetwas mit dem Motorrad meines Mannes zu tun?«
»Nein, ich habe nur laut nachgedacht.« Manni schafft es, seine Lüge mit unverbindlicher Freundlichkeit vorzubringen. »Ein schönes Haus, wie gesagt. Ihr Eigentum, nehme ich an. Dies ist doch keine Gegend, in der man mietet?«
»Nein, soweit ich weiß, eher nicht«, sagt Juliane Wengert und träufelt Zitrone in ihren Tee.
Judith starrt in ihre Tasse, während Manni und Juliane Belanglosigkeiten über Wohnlagen und Grundstückspreise in Bonn austauschen. Juliane Wengert hat die Stimme einer ausgebildeten Nachrichtensprecherin: Akzentfrei, angenehm melodiös und unaufgeregt. Der Tee in Judiths Tasse schimmert golden. Er hat ein feines rauchiges Aroma, erlesen wie Juliane Wengert selbst, erlesen wie alles in dieser Villa. Aber etwas stimmt trotzdem nicht, denkt Judith. Etwas fehlt. Mehr und mehr beschleicht sie das Gefühl, einer sorgfältig geplanten Theaterinszenierung beizuwohnen. Sie hebt den Kopf und versucht, in Juliane Wengerts graublauen Augen zu erkennen, was es sein könnte, das sie so geschickt kaschiert. Genau im selben Moment hat offenbar auch Manni beschlossen, dass es nun Zeit ist, zur Sache zu kommen.
»Ihr Mann, Frau Wengert«, sagt er. »Sie wissen also nicht, wo er sich aufhält?«
»Das sagte ich doch bereits.«
»Ist das nicht etwas, ähm, ungewöhnlich?«
»Er hat Herbstferien.«
»Ist er verreist?«
Verengen sich Juliane Wengerts Augen für den Bruchteil einer Sekunde? Zittert ihre Hand, mit der sie sich jetzt eine ihrer glänzenden blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht schiebt, ein ganz klein wenig? Judith ist sich nicht sicher.
»Verreist, mit seinem Motorrad. Auch das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wohin?«
»Motorradtouren sind ein Hobby meines Mannes, das ich nicht mit ihm teile. Wir führen eine Ehe, die solche Freiräume zulässt. Mein Mann genießt es von Zeit zu Zeit, allein mit seiner BMW unterwegs zu sein – ohne ein festes Ziel. Ich gönne ihm das und wüsste nicht, was es mir bringen würde, wenn ich seine Route kontrolliere. Wenn er zurück ist, wird er mir alles erzählen. Außerdem war ich in letzter Zeit selbst kaum zu Hause.«
»Hat Ihr Mann ein Handy, über das sie ihn erreichen könnten?«
»Sicher hat er ein Handy, aber das ist nicht angeschaltet.«
»Sie haben also probiert, ihn zu erreichen?«
»Gleich nachdem Sie angerufen haben, ja, denn offenbar ist es Ihnen ja sehr eilig. Ich kann es gern noch einmal versuchen.« Juliane Wengert steht auf, geht mit graziösen Schritten zu einem silberfarbenen Designtelefon, wählt und lauscht in den Hörer. »Nur die Mobilbox.« Sie legt den Hörer zurück. »Hören Sie, ich bin sicher, dass Andreas sich meldet, sobald er meine Nachricht hört.«
Sie ist nicht neugierig, denkt Judith. Sie
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