Der Wald ist schweigen
beantwortet Mannis Fragen, sie versucht uns auf Distanz zu halten – aber sie ist nicht wirklich verwundert, dass wir uns so für ihren Mann interessieren.
»Frau Wengert, wann haben Sie zum letzten Mal mit Ihrem Mann gesprochen?« Mannis Stimme klingt ebenso höflich distanziert wie die von Juliane Wengert. Wieder muss sich Judith eingestehen, dass ihr Kollege geschickter vorgeht, als sie ihm das noch vor wenigen Tagen zugetraut hätte.
»Am letzten Schultag vor den Herbstferien.«
»Vor zwei Wochen also?«
Juliane Wengert denkt kurz nach. »Heute ist Freitag. Ja, exakt vor zwei Wochen.«
»Erzählen Sie uns, was an diesem Tag geschah.«
»Was geschah?«
»Ihr Mann hat sich von Ihnen verabschiedet, mit dem Ziel, zwei Wochen mit seinem Motorrad zu verreisen, ohne Ihnen zu sagen, wohin, war das so?«
Juliane Wengert nickt. »Ja.«
»Wie haben Sie sich verabschiedet?«
»Er kam aus der Schule, hat seine Motorradkoffer gepackt und ist am frühen Nachmittag losgefahren. Die genaue Uhrzeit weiß ich nicht mehr, ich war in meinem Arbeitszimmer und habe mich auf eine Tagung vorbereitet.«
»Entschuldigen Sie, aber das klingt in meinen Ohren ungeheuer nüchtern für den Abschied eines Ehepaars vor einer zweiwöchigen Trennung.«
»Ich wusste ja nicht, dass er …« Juliane Wengert zuckt zusammen wie ein ertapptes Kind, setzt sich eine Spur aufrechter in ihrem Sessel zurecht. Sie räuspert sich. Als sie wieder zu sprechen beginnt, hat ihre Stimme erstmals einen leicht gereizten Unterton. »Ich glaube nicht, dass ich emotionale Details aus meiner Ehe mit Ihnen erörtern muss – zumal Sie mir immer noch nicht gesagt haben, was Sie eigentlich von meinem Mann wollen.«
»Frau Wengert.« Auch Manni versucht, sich aufrechter hinzusetzen, hat allerdings auf dem weichen Sofa kaum eine Chance. Es sieht albern aus, wie seine Knie aus den niedrigen Polstern über den Teetisch ragen, denkt Judith, lenkt ihre Aufmerksamkeit aber sogleich wieder auf Juliane Wengerts Gesicht.
»Wir haben das Motorrad Ihres Mannes in einer Scheune im Bergischen Land gefunden«, sagt Manni.
»Im Bergischen Land?« Juliane Wengert sieht ehrlich erstaunt aus. »Wo denn da?«
»In der Nähe von Unterbach.«
»Unterbach«, murmelt Juliane Wengert.
»Kennen Sie Unterbach?«
Juliane Wengert schüttelt den Kopf. »Unterbach«, wiederholt sie leise. Es klingt erstaunt.
»Ihr Mann ist nicht auf einer Motorradtour, Frau Wengert. Jedenfalls steht sein Motorrad seit zwei Wochen in dieser Scheune. Wir befürchten, dass Ihrem Mann etwas zugestoßen ist.«
»Zugestoßen?«
»Leider ja. Oder haben Sie doch eine Idee, wo wir Ihren Mann erreichen können?«
Sehr langsam, wie in Zeitlupe, hebt Juliane Wengert eine ihrer gepflegten, schmalen Hände und hält sie vor ihren Mund, als ob sie sich am Sprechen hindern wolle. Wie ein Kind, das etwas Ungezogenes gesagt hat. Nur dass der Ausdruck in ihren Augen so gar nicht kindlich ist. Gleich, jeden Moment wird ihre makellose Fassade zerbrechen, denkt Judith. Auf einmal tut ihr Juliane Wengert Leid. Niemand hat das verdient, was jetzt für sie beginnen wird: Das Leben nach dem unwiederbringlichen Verlust eines geliebten Menschen, ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt.
»Frau Wengert, wo ist Ihr Mann?« Manni spricht jetzt etwas lauter, bemüht, zu Juliane Wengert durchzudringen. Aber sie scheint ihn gar nicht zu hören. Sie presst ihre Hand nur noch fester auf die Lippen, ihre graublauen Augen fixieren die Lilien, vielleicht auch etwas ganz anderes, das weit dahinter liegt, unerreichbar für Manni und Judith.
»Frau Wengert?«
»Entschuldigen Sie mich für einen Moment.« Die Antwort ist nur geflüstert, klingt aber wie ein Schrei. Im nächsten Moment, schneller, als Manni oder Judith reagieren können, springt Juliane Wengert auf und stößt dabei ihre Teetasse um, die mit lautem Klirren auf dem Parkett zerbricht. Ohne sich darum zu kümmern, läuft sie aus dem Wohnzimmer. Ihr Paschminaschal weht hinter ihr her wie eine blutrote Fahne. Die Flügeltür fällt hinter ihr ins Schloss. Wie zwei Kinder, die mitten in ihrer Lieblingsfernsehsendung mit einem Bildausfall konfrontiert sind, sitzen Manni und Judith nebeneinander auf dem Sofa, zu überrascht, um etwas zu unternehmen. Im Kamin zerbirst ein Holzscheit, Funken stieben. Irgendwo im Haus fällt eine weitere Tür ins Schloss.
»Sie hat Angst.« Judith ist plötzlich sicher, dass es so ist. Sie tritt ans Fenster und späht auf die Straße. Es ist
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