Der Wald ist schweigen
Ehe war, die wahre Hoffnungsträgerin war. Spiel mit mir vierhändig, Dia. Während Diana Laura in die Augen schaut, ist Tamara einen Moment lang ganz nah. Ich habe sie nicht um ihrer selbst willen unterstützt, sondern um frei zu sein, denkt Diana. Aber sie hat trotzdem geglaubt, dass ich auf ihrer Seite bin. Erst als ich nach Afrika ging, ist sie aufgewacht. Abrupt steht sie auf.
»Ich muss jetzt Bäume auszeichnen und möchte Ronja gern dabeihaben. Wenn du willst, kannst du ja mitkommen.«
Diana parkt ihren Jeep an derselben Stelle wie in der Nacht, als Ronja ihr davongelaufen ist. Sie steckt zwei Farbsprühdosen in die Parkatasche, eine weitere gibt sie Laura, die Ronja an der Leine hält und glücklich aussieht. Denk nicht an die Schatten, ermahnt sich Diana stumm. Der Wald hat keine Augen. Schau genau hin, dies hier ist einfach nur Wald. Sie wendet sich an Laura.
»Du kannst mir also helfen. Diese Fichten hier im Hang stehen viel zu dicht. Wir müssen entscheiden, welche Bäume gefällt werden sollen. Etwa ein Fünftel des Bestands muss weg, damit die anderen besser wachsen können. Immer wenn zwei Fichten sehr dicht aneinander stehen, nehme ich eine raus. Ich versuche, möglichst die zu entfernen, die krumm gewachsen ist, die eine Doppelspitze hat oder deren Rinde Verletzungen aufweist. Alle Bäume, die gefällt werden müssen, bekommen ein Zeichen, das darfst du machen. Mach etwa in Augenhöhe zwei rote Punkte.«
Zuerst ist Laura zögerlich, will immer wieder diskutieren, ob der Baum auch wirklich gefällt werden muss, bevor sie das Zeichen für die Waldarbeiter sprüht. Aber nach etwa einer Stunde erkennt sie, worauf es ankommt, und ist wirklich eine Hilfe. Leichter Nieselregen beginnt zu fallen, aber das scheint das Mädchen nicht zu stören. Irgendwo lauert etwas und starrt mich an. Wieder dieses Gefühl. Widerwillig muss sich Diana eingestehen, dass sie froh ist, nicht allein zu sein. Etwas beobachtet mich, wartet auf mich. Sie schiebt das Gefühl beiseite. Bald schon wird sie ihre Waldarbeiter hierhin schicken. Sie werden diesen Hang durchforsten und dabei wird sich endgültig herausstellen, dass nichts in diesem Bestand auch nur im Geringsten ungewöhnlich ist. Lauras Lachen schallt ins Tal. Ein ausgelassenes Lachen, das Ronja gilt, die durchs Unterholz tobt und Hundeschätze apportiert: eine alte Sandale, die Plastikhülle eines Grablichts, eine Colaflasche, Teppichreste. Die Menschen sind Schweine, denkt Diana einmal mehr. Manchmal komme ich mir im Wald vor wie die Müllabfuhr. Aber sie bringt es nicht übers Herz, das Glück des Mädchens zu zerstören, indem sie sich über Umweltsünder ereifert.
»Wirf alles auf einen Haufen«, ruft sie ihr zu. »Wenn wir fahren, packen wir das in eine Tüte und nehmen es mit.«
Später machen sie im Schutz einer Eiche unten im Tal eine Pause und trinken Tee aus Dianas Thermoskanne.
»Ich glaube, ich will auch Försterin werden«, sagt Laura.
»Dann musst du aber Abitur machen.«
»Kann ich doch. Nächstes Jahr, wenn ich 18 bin, kann ich alles machen, was ich will.«
»Warum lebst du eigentlich hier im Sonnenhof, statt zur Schule zu gehen?«
Lauras Gesicht verdüstert sich. Sie hört auf, Ronja zu kraulen, pult stattdessen ein Päckchen Tabak aus der Hosentasche und dreht sich eine Zigarette.
»Versprichst du, dass du es niemandem erzählst?«
»Wenn dir das wichtig ist. Klar.«
»Meine Mutter will mich los sein«, sagt Laura heftig. »Sie hat einen neuen Freund. Sie will Papa für tot erklären lassen. Aber das lasse ich nicht zu. Wir haben uns nur noch gestritten. Einmal hab ich sogar eine Flasche Rotwein durchs Wohnzimmer geschmissen, mitten auf ihren allerliebsten Berberteppich. Da hat sie dann zum ersten Mal den Vorschlag mit dem Sonnenhof gemacht. Dieser Vedanja, der hier auf mich aufpassen soll, ist der Bruder ihrer besten Freundin.« Sie zuckt mit den Schultern. »Auf die Schule hatte ich damals eh keinen Bock mehr. Und auf den Typen von meiner Mutter schon gar nicht.«
»Sie will deinen Vater für tot erklären lassen, warum das denn?«
»Er war Geologe – ist Geologe, meine ich. Er hat Wasser gesucht, in Afrika. Wahrscheinlich ist er mit einem Flugzeug über der Sahara abgestürzt, aber sie haben ihn nie gefunden. Also kann es doch sein, dass er noch lebt, irgendwo bei einem Wüstenstamm. Er weiß schließlich, wie man in der Wüste überlebt.«
»Wie lange ist er schon verschwunden?«
»Fünf Jahre, drei Monate und elf Tage.«
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