Der Wald ist schweigen
Laura drückt ihre Zigarette aus, steckt die Kippe in ihre Jackentasche und wirft ihre braunen Rastasträhnen in den Nacken.
»Wenn ich 18 bin suche ich ihn. Erzähl mir von Afrika, Diana.«
»Erzähl mir von deinem Vater.«
***
Als sie Bonn erreichen, wird es schon dunkel. Im Schaufenster einer Bäckerei blinkt eine Kürbislichterkette, der Drogeriemarkt daneben preist Schminksets für den »perfekten Horror« an. Halloween, denkt Judith. Der gigantische Werbefeldzug der Industrie hat sich also ausgezahlt, die Deutschen haben das amerikanische Fest übernommen, Kürbisse und Totenköpfe, wohin man blickt. Ein Anlass mehr, sich in Kneipen aneinander zu drängen und sich zu besaufen. Manni lenkt den Wagen in eine Allee mit schmucken Jugendstilhäusern. Ein Windstoß drückt nasses Laub an die Windschutzscheibe.
»Nach 50 Metern rechts abbiegen«, schnurrt die Stimme des Autopilot-Systems.
In der Hölderlinstraße beschützen schmiedeeiserne Jugendstilzäune adrette Vorgärten. Die Straßenlaternen wirken historisch. Manni bremst vor einer hellgelb getünchten, zweistöckigen Villa mit Erkern und pfeift leise durch die Zähne.
»Nicht schlecht für einen Sportlehrer!«
»Wengert« ist in das Namensschild unter der dezenten Gegensprechanlage aus Edelstahl am Torpfosten graviert.
»Vielleicht hat er geerbt«, sagt Judith.
»Oder seine Frau hat Schotter.«
»Auch möglich.«
»Oder seine Frau wollte seinen Schotter«, Manni grinst anzüglich und legt zwei Zeigefinger an seine Schläfe, »und dann – peng! Ciao, Schatzi.«
Es hat nicht lange gedauert, bis sie den Halter des Motorrads in der Scheune von Bauer Bielstein als Andreas Wengert aus Bonn identifiziert haben. Keine Vorstrafen, eine Vermisstenmeldung liegt der örtlichen Polizei nicht vor. Er sei verreist, sie könne ihn leider nicht erreichen, hat seine Ehefrau am Telefon gesagt. Kühl und reserviert hat ihre Stimme geklungen. Nicht beunruhigt. Montag beginne die Schule wieder – sie sei sicher, bis dahin sei Andreas wieder da. Ob sie nicht so lange warten könnten? Leider nicht, hat Judith erwidert. Das Foto, das die Meldebehörde gefaxt hat, zeigt einen Mann mit ovalem Gesicht und blondem schulterlangem Haar. Körpergröße ein Meter fünfundachtzig, geboren am 1. Juni 1970.
Die Frau, die ihnen die Tür öffnet, sieht so teuer aus wie ihre Villa. Unvermittelt kommt Judith sich vor, als sei sie in eine Folge aus Derrick geraten. Die Frau streckt eine schmale, gepflegte Hand mit perlmuttfarben lackierten Nägeln aus.
»Juliane Wengert. Sie sind die Herrschaften von der Polizei, nehme ich an?«
Sie ist schön, denkt Judith, während sie Juliane Wengert durch eine hohe Diele mit Weichholzantiquitäten in ein Wohnzimmer folgen, das ebenso wie seine Besitzerin das Abbild aus einem Hochglanzmagazin zu sein scheint. Alterslos, makellos, denkt Judith und hat das Gefühl zu frieren. Auch Juliane Wengert scheint diese Kälte zu spüren, denn sie geht mit schnellen Schritten zum Kamin, bückt sich und schiebt ein paar Holzscheite in die Glut. Sie bewegt sich mit einer nachlässigen Anmut, die sehr weiblich und sinnlich wirkt. Sie trägt seidige schwarze Hosen mit Schlag, eine weiße Seidenkreppbluse und einen dunkelroten Paschminaschal um die Schultern. Ihr ebenmäßiges, dezent geschminktes Gesicht mit den hohen Wangenknochen verrät nichts von den Gefühlen, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach trotzdem hat. Oder sie empfindet wirklich nichts, denkt Judith, vielleicht ist sie gar nicht echt, sondern nur Hülle, ein schöner Schein. Juliane Wengerts Haare sind ebenso blond und schulterlang wie die des Toten vom Hochsitz, der vermutlich ihr Ehemann ist. Sie trägt sie offen, scheinbar unfrisiert, aber etwas an der Art, wie sie schimmern und in seidigen Wellen ihr Gesicht umschmeicheln macht klar, dass dieser Effekt weit mehr gekostet hat, als Judith für einen ihrer seltenen Frisörbesuche bezahlt. Schlecht gekleidet, zottelhaarig und zu dick kommt sie sich in Juliane Wengerts Gegenwart vor. Sie sehnt sich intensiv nach einer Zigarette.
»Ein schönes Haus«, sagt Manni neben ihr.
»Danke«, Juliane Wengert deutet auf die Couchgruppe, »nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Ich habe gerade Tee gekocht. Oder ein Mineralwasser vielleicht?«
Das Teegeschirr steht schon auf dem gläsernen Couchtisch bereit, Milchkännchen, mehrere Gefäße mit verschiedenen Zuckersorten, Zitronenschlitze in einer silbernen Presse, eine Kanne auf einem
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