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Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Mustermann
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herzförmige Muttermal an der Innenseite von Andreas’ linkem Oberschenkel denken. Mein Herz, hat sie gealbert und es geküsst, damals in Las Vegas, als sie es entdeckt hat. Versuch nie, dich vor mir zu verstecken, denn daran werde ich dich immer wieder erkennen. – Na, wenn das so ist, lasse ich es am besten in meinen Pass eintragen, hatte er geantwortet und sie auf den Mund geküsst. Unveränderliche Kennzeichen: Das Herz meiner Frau. Aber natürlich war das nur ein Scherz gewesen und natürlich hat er auch auf das echte Herz in Julianes Brust keine Rücksicht genommen.
    Es ist sehr kalt in dem Raum, in den Karl-Heinz Müller sie führt, und augenblicklich weiß Juliane Wengert, warum er so viel Aftershave benutzt. Der Geruch, der von der Metallbahre aufsteigt, ist widerlicher als alles, was sie sich je hätte träumen lassen. Ungerührt, ja beinahe liebevoll ergreift der Leichenarzt das grüne Tuch, das den Körper auf der Bahre bedeckt, und schlägt es zurück.
    »Atmen Sie nicht durch die Nase« sagt er – mehr hört sie nicht. Der Gestank in Verbindung mit der rohen, augenlosen Fleischmasse unter Andreas’ schöner blonder Löwenmähne, in die sie so gern ihre Finger gewühlt hat, gibt ihr den Rest. So hat sie sich das letzte Wiedersehen nicht vorgestellt. Fort, nur fort will sie. Sie dreht sich um und flieht, erreicht den Flur – so viele Türen, so grelles Licht, aber keine Toilette, wo soll sie bloß hin? Und dann kann sie gar nichts mehr denken, sie verliert das Gleichgewicht, fällt auf den kalten Boden und erbricht in einem krampfartigen Schwall den wirklich allerletzten Rest ihres Mageninhalts mitten auf das hellgraue Linoleum.
    Das Nächste, was sie wahrnimmt, ist Albrecht Tornows sonore Stimme. Sie blinzelt. Er steht neben ihr, allerdings in gebührendem Abstand zu der stinkenden, demütigenden Pfütze, in der sie liegt.
    »Ich denke, für heute haben Sie meine Mandantin wirklich genug strapaziert«, sagt er und schafft es, dass das so klingt, als seien Julianes Zusammenbruch und ihre Anwesenheit in der Rechtsmedizin ein Ansinnen der Polizei, nicht ihr eigener Wunsch gewesen. Gut so, er holt mich hier raus, er wird mich beschützen, denkt Juliane. Dann erlaubt sie sich, wieder ohnmächtig zu werden.
     
    ***
    »Laura, Laura, Laura – was ist nur mit dir los?«
    Zum Glück konzentriert sich Vedanja auf den Verkehr, während er das fragt. Seine Finger ruhen auf dem Lenkrad, breit und weiß und unbehaart. Glibberfinger. Schnell wendet Laura den Blick ab. Es ist ein grauer Morgen. Die Straße nach Kürten ist kurvig und ganz offensichtlich sind sie nicht die Einzigen, die am Samstagmorgen etwas zu erledigen haben.
    »Meinst du nicht, du könntest allmählich ein ganz klein bisschen Vertrauen zu mir haben?«
    »Tu ich doch«, sagt Laura und merkt selbst, wie lahm das klingt. »Mir geht’s doch gut.«
    Das ist eine glatte Lüge. Eine schreckliche Angst hat von ihr Besitz ergriffen, seitdem diese Kommissarin den Toten vom Erlengrund beschrieben hat. Eine Panik, die ihr die Kehle zuschnürt.
    »Aber irgendetwas hast du doch, das merke ich. Seitdem gestern die Polizei da war, bist du wie verwandelt.«
    »Das stimmt doch gar nicht.«
    »Hast du was gesehen, das die Polizei wissen muss? Auf der Lichtung vielleicht? Da gehst du doch öfter hin?«
    Heftig schüttelt Laura den Kopf. Die Lichtung, der Erlengrund. Warum mussten sie den Toten ausgerechnet dort finden? Und dann die Beschreibung: blonde schulterlange Haare, etwa 30 Jahre alt. Wie Andi. Aber es darf nicht Andi sein, kann nicht Andi sein, denn was hätte er dort getan, ohne sie? Oder hat sie am Ende ein Rendezvous mit ihm versäumt? Hat er auf dem Hochsitz auf sie gewartet? Aber nein, das kann nicht sein, denn bei ihrem letzten Treffen vor vier Wochen hat er nicht sagen können, wann sie sich wiedersehen, sosehr sie ihn auch darum gebeten hatte.
    Wenn meine Frau dahinter kommt, dass wir uns immer noch sehen, bin ich geliefert, bitte versteh doch, Laura. Wir müssen warten, bis du 18 bist, dann kann uns keiner mehr was.
    Aber du liebst mich doch?
    Natürlich tue ich das, oh, du weißt doch, wie sehr.
    Er wollte sie wieder an sich ziehen, aber sie hatte sich steif gemacht. Sag erst, dass wir zusammenbleiben!
    Ja, ja, ja, natürlich tun wir das, meine süße Laura, natürlich tun wir das.
    Da erst hat sie sich in seine Arme ziehen lassen und er hatte sie auf seinen Schoß gesetzt und gehalten, als wolle er sie nie mehr loslassen und jeder Gedanke an

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