Der Wald ist schweigen
wäre, würde sie zwischen der Wäsche todsicher Liebesbriefe oder einen Revolver finden. Aber dies ist die Wirklichkeit und es ist eine der vielen hässlichen Fratzen jedes Verbrechens, dass nicht nur das Opfer, das nackt auf dem Sektionstisch der Rechtsmedizin liegt, seine Geheimnisse preisgeben muss, sondern dass auch alle, die mit ihm zu tun hatten, plötzlich gezwungen sind, wildfremden Kriminalbeamten Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, die sie unter normalen Umständen sogar vor ihren engsten Freunden verbergen würden. Und all das im Namen der Gerechtigkeit, all das für dieses irrwitzige Fünkchen Hoffnung, dass am Ende dieses zermürbenden Seelenstriptease ein Täter ermittelt wurde, den man für all das Leid, für all den Verlust verantwortlich machen kann.
Aber empfindet Juliane Wengert den Tod ihres Ehemanns tatsächlich als Verlust? Mehr und mehr beginnt Judith dies zu bezweifeln.
»Schau mal hier«, ruft Manni von nebenan. »Fürs Wandern sind die Wengerts wahrlich gut ausgerüstet!« Er hebt eines von mehreren Paaren teurer Wanderschuhe hoch und begutachtet die Sohlen. »Größe 38, und sieh mal an, richtig schöner Waldboden in den Ritzen. Würde mich nicht erstaunen, wenn der zum Tatort passt.«
»Meinst du nicht, dann hätte Juliane Wengert ihre Schuhe geputzt?«
»You never know«. Manni schiebt die Stiefel in eine Beweismitteltüte und beginnt systematisch, Jackentaschen zu durchwühlen. Er pfeift leise durch die Zähne, als er nach einer Weile aus einer roten Outdoor-Herrenjacke eine Wanderkarte hervorzieht. »Das schöne Bergische Land, schau an, schau an.«
»Komm schon, Manni. Alle Kölner fahren zum Wandern ständig ins Bergische.«
»Mag sein. Aber schau mal, wie die Karte geknickt ist – im Zentrum ist eindeutig das Schnellbachtal.«
»Tatsächlich. Aber beweist das, dass Juliane Wengert die Täterin ist? Vorläufig bedeutet das doch nur, dass Andreas Wengert das Schnellbachtal kannte. Der Größe nach zu urteilen ist das eindeutig seine Jacke.«
»Vielleicht hat sie die Karte ja auch in seine Jacke gesteckt.«
»Das ist doch Quatsch – warum sollte sie das tun? Und überhaupt – warum hängt Andreas Wengerts Jacke mit der Karte hier im Schrank, wenn er sie doch benutzt hat, um den Erlengrund zu finden? Und wo sind seine Motorradsachen, die er auf jeden Fall mit ins Schnellbachtal genommen haben muss?«
»Warum verteidigst du Miss Marmor eigentlich dauernd? Ich dachte, du bist dafür, dass wir in alle Richtungen ermitteln?«
»Du hast Recht. Und deshalb nehme ich jetzt Fotos von den Wengerts mit und fahre noch mal zu diesem Aschram. Mal sehen, ob das die Erinnerung dieser Yogis auffrischt.«
»Ich glaube nicht, dass Millstätt das gut finden würde.«
»Millstätt will, dass wir bis morgen Ergebnisse vorweisen. Da ist es nur gut, wenn wir uns aufteilen.«
***
Es ist Mittag, als Diana ihren Jeep ins Tal zum Sonnenhof lenkt. Ihr frisch gewaschenes Haar hat sie zu einem Knoten hochgesteckt, sie hat sogar Make-up aufgelegt. Auf dem Beifahrersitz steht ihre Reisetasche, darin befinden sich ein Paar schwarze Lackledersandalen mit Absatz, ihr schwarzes, bügelfreies Standard-Abendkleid von H&M und eine Seidenstola, deren schimmerndes Grün genau zu ihren Augen passt. Diana muss nicht in den Rückspiegel schauen, um zu wissen, dass sie großartig aussehen wird. Die Nacht mit Tom – so hatte der Dunkelhaarige aus dem Groove sich ihr schließlich vorgestellt – hat sie elektrisiert. Obwohl sie kaum mehr als zwei Stunden geschlafen hat, fühlt sie sich so gut wie lange nicht mehr. Um acht hat sie Tom selig schlummernd zurückgelassen – später, als sie wollte, aber immerhin noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass Ronja ihr Morgengeschäft im Flur des Forsthauses erledigte. Zum Dank hat sie ihre gemeinsame Joggingrunde auf eineinhalb Stunden ausgedehnt und danach immer noch genug Energie gehabt, ihren Haushalt zu erledigen und die Gemüsebeete im Garten winterfest zu machen. Vollkommen entspannt und unbeobachtet hat sie sich dabei gefühlt, und abgesehen von ihrer Mutter, die sie zum elften Mal in dieser Woche daran erinnerte, nur ja pünktlich zu Tamaras Konzert zu kommen, hat niemand sie mit Anrufen malträtiert.
Sie erreicht den Parkplatz des Sonnenhofs, nimmt Ronja an die Leine und springt aus dem Wagen. Vedanja ist nirgends zu sehen, auch sonst wirkt das Gehöft wie ausgestorben. An der Rezeption sitzt ein Mädchen mit braunen Knopfaugen. Auf ihren Wangen blühen
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