Der Wald ist schweigen
Jey war erloschen und alles war gut gewesen, dort oben in ihrem Liebesnest in den Bäumen, weit entfernt von der Welt. Ich melde mich, hat er zum Abschied gesagt. Ganz bestimmt tue ich das, wir sehen uns bald wieder, ich lasse mir was einfallen, denn hier auf dem Hochsitz wird es allmählich zu kalt. Aber er hat nicht Wort gehalten. Sosehr sie auch wartete, nichts hat sie seitdem von ihm gehört. Dabei ist sie beinahe jeden Tag auf den Berg geklettert, um die Mailbox von ihrem Handy abzufragen. Keine SMS von Andi. Warum also sollte er vor zwei Wochen auf der Lichtung gewesen sein? Das ergibt absolut keinen Sinn, es muss ein irrsinniger Zufall sein. Jemand, der ihm ähnlich sieht, ist dort erschossen worden, aber nicht Andi, nicht ihr Andi.
Sie erreichen Kürten und Vedanja parkt den VW-Bus in einer Seitenstraße. Er will den Arm um sie legen, als sie zum Marktplatz laufen, aber sie duckt sich weg.
»Was hast du vor, kleine Laura?«
»Ich bin nicht klein!«
»Entschuldige.« Seine blassen Lippen verziehen sich zu einem amüsierten Grinsen. »Also, was hast du vor? Hilfst du mir beim Einkaufen?«
»Ich denke, ich hab heute frei!«
»Natürlich, ja, hast du. War ja nur ein Vorschlag.«
Auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes sieht sie einen Drogeriemarkt.
»Ich geh erst mal Batterien kaufen und so. Und dann will ich einfach ’n bisschen rumlaufen und gucken.«
Irgendwo in diesem Kaff muss es ein Internet-Café geben. Vielleicht hat Andi eine E-Mail geschickt. Der Gedanke daran gibt ihr Energie. Ja, so muss es sein. Sie hat seit Ewigkeiten ihre E-Mails nicht abfragen können. Aber erst muss sie Vedanja loswerden. Sie unterdrückt den Impuls, einfach wegzurennen, und lächelt ihn an.
»Meine Mutter hat mir Geld geschickt. Vielleicht kauf ich mir CDs oder ’ne neue Jeans.«
Bevor er etwas entgegnen kann, winkt sie ihm übertrieben enthusiastisch zu. »Tschüss dann, bis später.«
»Um ein Uhr hier am Bus«, ruft er ihr nach.
Sie winkt noch einmal, bejahend. Zwingt sich, ganz langsam hinüber zur Schlecker-Filiale zu schlendern. Tut so, als ob sie sich für die Auslagen der Marktstände interessiert. Sie ist sicher, dass Vedanja sie nicht aus den Augen lässt. Wie kann sie ihn abschütteln?
Im Schlecker kommt ihr der Zufall zu Hilfe. Der Laden ist sehr voll und die Luft stickig und abgestanden. Ein paar Kundinnen beschweren sich lautstark darüber.
»Entschuldigen Sie, unsere Klimaanlage spinnt mal wieder!« Eine sichtlich gestresste Verkäuferin hastet durch den Laden, öffnet eine Tür und keilt sie fest. Dahinter liegt kein Verkaufsraum, sondern eine Art Lager. Aber das Beste ist, dass die Verkäuferin jetzt noch eine weitere Tür an der Rückseite öffnet, offenbar den Liefereingang der Filiale. Ein Schwall kalte Luft weht in den Drogeriemarkt. Schritt für Schritt nähert sich Laura der rettenden Tür – scheinbar ganz versunken in die Auswahl des richtigen Shampoos. Jetzt hastet die Verkäuferin an ihr vorbei zurück in die Filiale.
»Shirin! Shirin, wo bist du? Du musst dich hier an den Hinterausgang stellen!« Mit einem unterdrückten Fluch verschwindet die Verkäuferin hinter einer Regalreihe mit Windeln. »Wo zum Kuckuck steckt dieses Mädchen immer, wenn man sie braucht?«
Laura hat nicht die Absicht, das herauszufinden, Über der Tür hängt schräg ein Spiegel und sie kann darin deutlich erkennen, wie Vedanja den Laden betritt und sich suchend umsieht. Hastig stopft sie Nagellack, Kajalstift, Batterien, Haartönung und Deoroller in die Taschen ihres Parkas, lässt ihr leeres Einkaufskörbchen auf den Boden fallen und rennt. Sie rennt schnell und so lange, bis sie die empörten Schreie aus dem Drogeriemarkt nicht mehr hört und sicher sein kann, dass ihr niemand folgt.
***
Die Juicy-Fruit-Kaugummis rhythmisch mit den Zähnen bearbeitend, schlüpfen die Spurensicherer Karin und Klaus vor dem Eingangsportal der Wengert’schen Villa in ihre weißen Overalls und die Überschuhe. Als sie wenig später im Flur der Villa ihre Koffer arrangieren, drängt Manni sich an ihnen vorbei zurück auf die Straße, wahrscheinlich weil er Millstätt in Empfang nehmen will. Judith geht in die Küche und beobachtet durchs Fenster, wie ihr Kollege auf dem Bürgersteig im grauen Nieselregen von einem Bein aufs andere tritt. Ihr Kopf fühlt sich an wie flüssiges Blei, ihr Bauch revoltiert gegen die zwei Aspirin, die sie statt eines Frühstücks zu sich genommen hat. Es gibt keinen Grund, sich zu
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