Der Wald ist schweigen
Manni in die Kälte zu stellen, der tatsächlich noch ein wenig selbstzufriedener aussieht als am Vorabend. Lustlos öffnet sie den Wengert’schen Kühlschrank. Er enthält ein angebrochenes Paket Diätmargarine der Marke »Du darfst«, drei Flaschen Grauburgunder, eine Flasche Aquavit Linie, ein sehr schrumpeliges Stück Ingwer, mehrere Möhren, Äpfel und Zitronen, deren Verfall nur unwesentlich weniger weit fortgeschritten ist, Scheibletten und Putenbrustaufschnitt, ebenfalls von »Du darfst«, ein angebrochenes Glas Himbeermarmelade derselben Marke, mehrere Dosen Cola light, zwei Liter Volvic-Wasser, ein Päckchen Jacobs-Kaffee »Krönung light« und zwei Stapel Joghurtbecher von Weihenstephan, der linke mit Kokos-, der rechte mit Vanillegeschmack. Nichts wirklich Nahrhaftes, kein Wunder, dass Juliane Wengert Magenprobleme hat. Im Gefrierfach befinden sich mehrere Plastiktabletts mit Eiswürfeln und Kühlkompressen für Stirn und Augen.
Systematisch öffnet Judith die anderen Schränke und findet neben teurem Geschirr, Pfannen, Töpfen und Küchengeräten Schokoladenkekse, Gewürze, Nudeln, Reis, mehrere Pakete Knäckebrot, einen Stapel »Du darfst« -Fertiggerichte für die Mikrowelle und vier kleine Dosen chinesische Bi-Huhn-Suppe.
Nur beim Tee scheint Juliane Wengert Wert auf Frische zu legen: Mehrere Porzellangefäße sind sorgfältig beschriftet, ihr Inhalt ist erlesen, kein billiger Beuteltee. Nachdenklich lässt Judith den Blick über die dunkelpolierten Walnussoberflächen schweifen. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie jede Wette eingehen, dass dies die Küche einer alleinstehenden Frau ist. Schwer vorstellbar, dass der athletische Andreas Wengert abends zusammen mit seiner Ehefrau »Diät-Hühnerfrikassee mit Risi-Pisi« in der Mikrowelle erhitzt und zum Nachtisch Vanillejoghurt gelöffelt hat.
Millstätt und Manni erklimmen gerade die steinernen Eingangsstufen, Juliane Wengerts Anwalt Albrecht Tornow ist ihnen dicht auf den Fersen. Seine Lippen sind zu einem misslaunigen Strich gepresst, seine spitze Nase, die unter dem braunen Prinz-Eisenherz-Haarschnitt heraussticht, und die stelzenden Bewegungen seiner langen dünnen Beine verleihen ihm die Aura eines Afghanen-Rüden, den es vom Siegertreppchen der Hundezüchtermesse unversehens in den Morast eines Kuhstalls verschlagen hat. Fehlt nur noch die Schleife, denkt Judith böse, gesellt sich aber mit neutralem Gesichtsausdruck zu ihren Kollegen, die sich im Eingangsbereich um Axel Millstätt scharen.
»Herr Tornow darf also dabei sein, während ihr euch hier umseht«, verkündet ihr Chef. Wie immer, wenn er ohne Flipchart, Tafel oder Overheadprojektor sprechen muss, verschränkt er die Arme hinter dem Rücken und wippt auf den Fußballen. »Seine Mandantin ist einstweilen bei einer Verwandten untergekommen und nicht in der Verfassung, weitere Fragen zu beantworten. Sie möchte aber bei den Ermittlungen behilflich sein. Deshalb haben wir ihre ausdrückliche Erlaubnis, uns hier umzusehen – auch wenn die Villa bekannterweise nicht der Tatort ist.«
Klaus lässt dezent eine Kaugummiblase zerbersten und Millstätt mustert ihn irritiert. Albrecht Tornow nutzt die Chance und ergreift das Wort.
»Ich möchte betonen, dass diese Erlaubnis meiner Mandantin keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist. Aber da sie unschuldig ist, hat sie nichts zu verbergen. Sie verlässt sich darauf, dass Sie mit ihrem Hab und Gut pfleglich umgehen und äußerste Diskretion wahren, da es sich um ihre Intimsphäre handelt. Bedenken Sie bitte, dass ihr Verlust schon groß genug ist.«
»Gleich fang ich an zu heulen«, flüstert Manni. »Wahrscheinlich hat sie in den letzten zwei Wochen nix anderes getan, als Beweise zu vernichten.«
Karin zwinkert ihm zu. »Irgendwas vergessen sie immer.«
»Gibt es Diskussionsbedarf?«, fragt Millstätt schneidend. Niemand erwidert etwas.
»Gut. Ich habe Herrn Tornow also zugesichert, dass ihr euch zu benehmen wisst. Haltet euch bitte daran. Ich muss jetzt los – Schulfest. Meine Frau besteht darauf, dass ich diesmal dabei bin. Manni, Judith, morgen früh um acht erwarte ich euren Bericht.«
Als ob eine Hausdurchsuchung jemals die Intimsphäre wahren könnte, denkt Judith zwei Stunden später resigniert, während sie die Wäschekommode der Wengerts inspiziert. Seine Unterhosen, ihre Seidendessous. Seine Socken, ihre Strümpfe. Jede Sorte in einer Extraschublade, alles schön nach Farben sortiert. Wenn dies eine Derrick-Folge
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