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Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Mustermann
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eines Schürzenjägers, der auch vor seinen Schutzbefohlenen nicht Halt macht? Wie abgrundtief würdelos das ist.
    Nächtelang hat sie sich den Kopf darüber zerbrochen, was sie tun soll. Ihre Ruhe war dahin. Die Lösung war schließlich ein unendlich peinliches Gespräch mit der Mutter des Mädchens, das Andreas und sie gemeinsam durchstanden. Das Mädchen wurde von der Schule genommen. Nichts würde an die Öffentlichkeit dringen, hatten sie vereinbart. Auch das kleine Luder hatte schließlich versprochen dichtzuhalten. Danach hatte Andreas sie, Juliane, angefleht, ihm zu verzeihen. Ein einmaliger, bedauerlicher Ausrutscher. Bitte, Juliane, sei doch vernünftig, ich liebe dich.
    Was sollte sie tun? Sie hat versucht, ihm zu glauben, aber es ist ihr nicht gelungen. Zu viel hat sie schon gesehen, sie, zu deren Beruf es gehört, durch die Welt zu jetten. Trotzdem ist sie nicht so schnell bereit gewesen, Andreas aufzugeben. Etwas in ihr wollte ihn nicht loslassen. Und so dehnten sich Wochen zu Monaten, in denen Juliane mehr und mehr zu einer Gefangenen ihres Misstrauens wurde, ein Schatten ihres früheren Selbst, ein Opfer ihrer Eifersucht.
    Und dann hat er sie verlassen. Ist mit seinem geliebten Motorrad aus der Einfahrt gefahren, dass der Kies nur so spritzte, und sie hat gewusst, dass sie ihn nicht mehr wiedersehen wird. Gewusst, gefühlt, geahnt – was auch immer. Jetzt ist er tot, sagt die Polizei, und zumindest ein Gutes hat dieser Tod: Er kann nicht mehr sagen, dass er sie betrogen hat, dass er sie verlassen wollte, dass er sie schon verlassen hat. Niemand wird das erfahren, denn dass dieses kleine Flittchen es wagt, den Mund aufzumachen, wird seine Mutter schon zu verhindern wissen. Sonst gibt es andere Wege, die Kleine zum Schweigen zu bringen. Juliane Wengert gibt sich einen Ruck, setzt sich gerade hin. Sie ist eine Witwe. Sie hat ein Recht, um ihren Mann zu trauern, und niemand kann sie zwingen, sein Andenken zu besudeln, indem sie von einer Affäre berichtet, die längst der Vergangenheit angehört. Sie räuspert sich.
    »Meine Ehe war intakt, Sie bemühen sich vergeblich. Und jetzt möchte ich meinen Mann sehen. Bitte.«
    Die Polizisten wechseln einen bedeutungsvollen Blick. Albrecht legt seine Hand beschwörend auf die ihre. Sie hat seit Ewigkeiten keine Handcreme benutzt. Ein Fehler. Ihre Haut ist trocken und schuppt sich. Reptilhaut.
    »Bitte, Juliane, tu dir das nicht an.« Albrecht bettelt regelrecht. »Du musst Andreas nicht identifizieren, es besteht kein Zweifel, dass er es ist. Der Abgleich der Zähne ist eindeutig.«
    »Ich will ihn sehen«, wiederholt Juliane Wengert scharf. Albrecht weiß nicht, was sie Andreas schuldig ist, und es geht ihn auch nichts an. Sie bezahlt ihn dafür, dass er ihre Interessen vertritt, nicht dafür, dass er sie hinterfragt.
    »Wenn Sie darauf bestehen, dann fahren wir selbstverständlich.« Der Kommissar mit der albernen Frisur steht auf. Auch Albrecht erhebt sich und bietet Juliane den Arm an. Er macht Anstalten, ihr nochmals ins Gewissen zu reden, beherrscht sich jedoch.
    Aber als sie eine halbe Stunde später durch die neonbeleuchteten Gänge des Rechtsmedizinischen Instituts am Melatenfriedhof gehen, ist Juliane Wengert auf einmal selbst nicht mehr so sicher, dass es eine gute Idee war, ihren Willen durchzusetzen. Sie hakt sich bei Albrecht unter. Ein Zurück gibt es nicht mehr, ohne dass sie ihr Gesicht verliert, und auch wenn sie fürchterliche Angst vor dem hat, was auf sie zukommt, ist der Wunsch, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, immer noch stärker. Denn wie, wenn sie sich nicht mit eigenen Augen davon überzeugt hat, kann sie je sicher sein, dass es sich bei dem Toten wirklich um Andreas handelt?
    Ein braun gebrannter, gedrungen muskulöser Mann in weißem Kittel drückt seine Zigarette in einem winzigen, silbernen Aschenbecher aus, lässt den Deckel zuschnappen und tritt auf sie zu. Nie zuvor hat sie sich Gedanken darüber gemacht, wie ein Leichenarzt aussieht – aber ganz sicher hätte sie nicht so einen Tausendsassa mit sinnlichen Lippen erwartet, der teure italienische Schuhe trägt und durchdringend nach einem herben Aftershave mit Moschusnote duftet.
    »Karl-Heinz Müller«, sagt er und hält ihre Hand eine Millisekunde länger als nötig. »Sie müssen jetzt sehr stark sein – sind Sie wirklich sicher, dass Sie Ihren Mann sehen wollen?«
    All das passiert mir nicht wirklich, denkt Juliane Wengert und nickt. Auf einmal muss sie an das kleine,

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