Der Wald ist schweigen
der Polizei hätte geben müssen. Morgen, wenn ich zurückkomme, rede ich mit Vedanja, beruhigt sie sich. Bestimmt klärt sich dann alles auf. Und jetzt muss ich erst einmal meine Familie überstehen.
***
Heiner von Stetten trägt heute eine orangefarbene Pluderhose und ein rotes Kapuzensweatshirt, das über seinem Bauch spannt. Er thront im Schneidersitz auf einem violetten Meditationskissen vor einem niedrigen indischen Teetisch, auf dem er Tarotkarten ausgebreitet hat, die er mit gerunzelter Stirn studiert.
Nachdem das picklige Mädchen vom Empfang Judith bei ihm abgeliefert hat, streift er sie mit einem flüchtigen Blick, wendet seine Aufmerksamkeit dann aber sofort wieder den Karten zu. Mehr denn je sieht er wie ein Buddha aus.
»Setzen Sie sich, setzen Sie sich. Gerade habe ich mich gefragt, was die Königin der Schwerter mir sagen will, die heute so hartnäckig obenauf liegt – und jetzt habe ich meine Antwort.« Er nimmt eine der Karten vom Tisch und reicht sie Judith herüber. »Wie immer ist es ganz einfach. Die Königin der Schwerter, die Kämpferin für Wahrheit und Gerechtigkeit. Wer sonst könnte damit gemeint sein als Sie, Judith.«
Die Königin der Schwerter schwebt mit nacktem Oberkörper auf einem Wolkensitz im Himmel. In der rechten Hand hält sie ein Schwert, in der linken einen abgeschlagenen, bärtigen Kopf. Judith gibt ihm die Karte zurück.
»Sehr schmeichelhaft. Aber ganz so blutrünstig bin ich nicht.«
»Oh, die Königin der Schwerter ist nicht blutrünstig. Crowleys Symbolik ist nur sehr plakativ. Die Königin der Schwerter regiert das Element Luft, das steht für den Intellekt. Was diese Königin mit ihrem Schwert vernichtet, ist die Falschheit. Sie hält eine Maske in der Hand. All diese Verstellungen, hinter denen die Menschen sich so gern verstecken, sind ihr zuwider. Sie ist die Maskenzerreißerin.«
»Interessant.«
»Ja, nicht wahr. Aber die Königin der Schwerter ist nicht nur unerbittlich, wenn sie die Falschheit vernichtet. Sie ist auch nackt, sehen Sie. Und auf dem Kristallstern über ihrem Haupt schwebt ein Kinderkopf. Wissen Sie, was das bedeutet, Judith?«
»Keine Ahnung.«
»Das ist ein Symbol für Unschuld. Nur weil die Königin der Schwerter sich selbst entblößt und ihre eigene kindliche Unschuld bewahrt, kann sie die Wahrheit erkennen und die Masken der anderen zerreißen.«
Heiner von Stetten hebt den Kopf und mustert Judith kritisch.
»So ist es doch immer. Alles hat seine zwei Seiten. Ich überführe andere der Lüge, weil ich mich selber zeige, wie ich wirklich bin. Dabei ist gerade dieser zweite Teil so schwer, nicht wahr?«
Judith weiß nicht, was sie darauf entgegnen soll. Sie fühlt sich unbehaglich unter Heiner von Steffens Blick. Gereizt bemerkt sie, wie ihre Wangen zu brennen beginnen.
»Ja, ja, natürlich ist das schwer.« Heiner von Stetten spricht jetzt sehr leise. »Wer wüsste das besser als Sie, Judith?«
»Es geht hier nicht um mich.«
»Oh, ich glaube, da irren Sie sich. Es geht absolut um Sie. Sie quälen sich, etwas quält Sie, das habe ich gleich gesehen. Und heute ist es sogar noch deutlicher.« Mit einer schnellen Bewegung schiebt Heiner von Stetten die Tarotkarten zusammen und hält sie Judith hin. »Ich glaube, Sie brauchen sehr dringend Hilfe. Ziehen Sie eine Karte.«
Judith ignoriert den Stapel und legt die Farbkopie, die sie von Andreas Wengerts Foto gemacht hat, auf den Tisch. Zwei Stunden lang hat sie die schon in Unterbach rumgezeigt. Hat sie Marc Weißgerber, dem Motorradhelden, unter die Nase gehalten, Egbert Wiehl und seiner verdrießlichen Frau, hat Abzüge davon in der Kneipe »Zur Linde« und im Truckstopp »Rosi’s« ins Fenster geheftet. Die Kriminalpolizei bittet um Mithilfe. Bislang will niemand Andreas oder Juliane Wengert gesehen haben.
»Herr von Stetten, ich habe weder Zeit für ein Kartenspiel noch Interesse daran und ich komme durchaus gut allein zurecht. Wie Sie sich vielleicht erinnern, ermittle ich in einem Mordfall. Kennen Sie diesen Mann?«
»Ist das der Tote? Nein, ich kenne ihn nicht.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich habe diesen Mann noch nie gesehen.« Er legt den Tarotkartenstapel auf das Foto. »Na los, trauen Sie sich. Nehmen Sie eine Karte.«
»Und diese Frau?« Judith reicht ihm ein Porträt von Juliane Wengert. Fr betrachtet es und schüttelt den Kopf.
»Eine schöne Frau. Aber leider – auch sie ist mir noch nie begegnet. Was ist mit ihr? Ist sie auch tot?«
»Möglicherweise war
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