Der Wald wirft schwarze Schatten
sollten.
Sie war klein und dünn, aber dennoch stark. Und zäh. Sie konnte Lasten tragen. Sie trugen viele Lasten in jenem Sommer, schweres Material, weit in den Wald hinein. Er sägte, hämmerte und zimmerte, sie half, indem sie ihm zur Hand ging. Sie bauten einen Raum an. Bauten eine Tür, setzten zwei Fenster ein, verkleideten die Wände innen, reparierten das Dach, nagelten Dachpappe auf. Außerdem begann er, in der Senke hinter der Hütte einen Brunnen zu graben, obwohl es genau genommen nicht nötig war. Sie hatten ja sauberes Wasser im Bach. Aber es schadet nicht, genügend Wasser zu haben, sagte er. Und außerdem mussten sie dann nicht so weit gehen. Sie war meist in der Hütte beschäftigt, malerte und tapezierte, nähte Gardinen, besorgte eine neue Matratze, nähte einen Bezug dafür. Sie beschaffte Tassen und Teller, Decken und Kissen, Teppiche und Bettbezüge und alles, was sie sonst noch an Ausstattung benötigten.
Es wurde richtig schön. Klein, aber fein. Fast wie eine Puppenstube, sagte sie. Und es gehört nur uns. Alles war so gemütlich, heimelig und gut. So hätte es weitergehen, so hätte es immer sein können. Wenn nicht ein Mensch hinzugekommen wäre. Jemand mit Bedürfnissen, die dringender waren als seine. Essen, sofort. Windeln. Aufmerksamkeit. Zuneigung. Sieh mich an. Jetzt. Ihr Blick verschwand. Ihr Blick wandte sich ab von ihm, hin zu dem anderen. Und das war der große Fehler. Sie hätten nie ein Kind bekommen dürfen.
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10
Evelyn öffnet zögernd die Augen, sie ist sofort hellwach, obwohl es noch immer dunkel ist. Nur ein matter Streifen Dämmerlicht dort, wo sich der Vorhang teilt. Sie packt den Handgriff am Bett, zieht sich hoch. Ach herrje, sie ist immer noch ganz zerschlagen nach dem großen Ausflug gestern. Aber es ist eine schöne Art von Schmerz. Sie ist guten Mutes. Denn heute ist der große Tag! Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal an einem Geburtstag so erwartungsvoll aufgewacht ist. Sie knipst die Nachttischlampe an, schaut auf die Uhr. Viertel vor sechs. Höchste Zeit aufzustehen, bei allem, was sie heute noch erledigen muss.
Sie blickt hinüber zur Schranktür, auf die Tracht, die dort hängt. Tracht – ist das nicht ein bisschen übertrieben? Nein, das Beste ist gerade gut genug. Sie will ihnen wirklich Ehre erweisen. Und wie schön es für sie sein wird, etwas echt Norwegisches zu sehen, nach all den Jahren in Amerika! Gott sei Dank hat sie Rock und Schürze noch gebügelt, bevor sie ihre Einkäufe machte. Hauptsache, sie findet die Brosche noch, damit die Tracht komplett ist. Aber eins nach dem anderen, und das Wichtigste zuerst. Evelyn zieht das graubraune Alltagskleid an, quält sich in die Strümpfe. Sie steckt die Füße in die Pantoffeln, schlurft aus dem Zimmer, stützt sich auf dem Weg die Treppe hinunter schwer am Geländer ab. Au, wie das im Rücken und in den Hüften zwickt. Und in den Knien! Die gestrige Einkaufstour war die größte Kraftanstrengung seit vielen Monaten. Solche Schmerzen hat sie nicht mehr gehabt, seit sie vor zwei oder drei Jahren die letzten Tulpenzwiebeln gesetzt hat.
Sie geht ins Bad, sinkt auf die Toilette, pinkelt, dann humpelt sie in die Küche und setzt Kaffee auf. Sie schaltet das Radio ein, erwischt gerade noch die letzten Nachrichten.
«Die Raumsonde Dawn startet heute von Cape Canaveral in Florida mit der Mission, den Asteroiden Vesta und den Zwergplaneten Ceres zu untersuchen …»
Sie schüttelt resigniert den Kopf.
«Nun sage mal, was wollen die denn da draußen?»
«Die dreijährige Madeleine McCann, die im Mai an der portugiesischen Algarve aus dem Hotelzimmer ihrer Eltern entführt wurde, soll in Marokko gesehen worden sein.»
«Gottchen, die arme Kleine.»
«Und noch dies: Der September ist dieses Jahr ungewöhnlich trocken. In den südöstlichen Landesteilen besteht stellenweise hohe Waldbrandgefahr.»
«Wie schön für ihn, dass es nicht regnet, jetzt, wo er endlich kommt!»
Sie schaut durch die Gardine in die graue Morgendämmerung. Die Blätter der Birke auf der anderen Straßenseite sind gelb, und der Ahornbaum des Nachbarn ist unglaublich prachtvoll mit seinen verschiedenen Schattierungen von Orange.
Wie gut, dass er jetzt kommt, zu dieser Jahreszeit, die in Norwegen so schön ist. Wie muss er das vermisst haben. Sein Heimatland, mit der schönen Natur. Den Wald, den er so geliebt hat. Und den reinen, klaren Himmel. So etwas haben sie in Amerika bestimmt nicht. Zu
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