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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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uneinnehmbar. Jetzt zitterte sie und war völlig aufgelöst. Er ging zu ihr, setzte sich neben sie, legte ihr die Hand auf den Rücken. Sie verbarg das Gesicht an seiner Schulter, weinte an seiner Brust. Er tätschelte sie. Schhh. Schhh. Er nahm ihre Hand. Ihre kleine hellrote Hand in seiner großen Faust, die so beschützend wirkte, als sie sich um ihre Hand schloss. In dem Moment sah sie auf zu ihm, mit ihrem blauen Blick. Die Augen voller Tränen. Sah ihn an mit
diesem
Blick.
     
    Er hustet wieder und würgt die letzten Tropfen Schleim und Magensäure heraus. Wischt sich den Mund ab, Nase und Augen. Klingelt nach der Stewardess, die ihm die Tüte abnimmt und ihm Papiertücher gibt, damit er sich säubern kann. Elise. Das Kind. Was ist mit dem Kind passiert? Passiert? Nichts ist passiert. Er hat sich geschworen, dass er nie wieder daran denken wird. Nie mehr. Wahrscheinlich war es nicht einmal von ihm.
     
    Nachdem sie ein Paar geworden waren, konnte er sie gar nicht schnell genug vom Friedhof wegholen. Weg von den anderen Männern, die nur ihren Spaß mit ihr wollten. Er hatte nichts dagegen, für sie zu sorgen. Sie hatte wohl auch nichts dagegen. Also zog sie zu ihm in seine kleine Wohnung in der Oslogate. Das war auch besser für sie, denn den Rest des Sommers regnete es. Sie brauchte nicht in dem Mistwetter draußen in der Erde zu wühlen. Stattdessen beschäftigte sie sich mit sich selbst. Meistens zeichnete sie. Skizzen von verschiedenen Dingen in der Wohnung. Manchmal malte sie Aquarelle von Bildern, die sie im Kopf hatte. Große leuchtende Farbfelder, die nichts darstellten. Wenn er nach Hause kam, zeigte sie ihm, was sie gemacht hatte. «Schön», sagte er. «Sehr schön.» Obwohl er merkte, wie ihn diese scheinbar harmlosen Farbflecken beunruhigten. Sie waren nicht zu verstehen. Aber er dachte nicht sonderlich viel darüber nach. Damals nicht. Stattdessen machten sie es sich am Abend gemütlich. Kochten gemeinsam, aßen, sahen fern, liebten sich. Und wie sie sich liebten. Ihr Körper, die schlanken Arme um ihn geschlungen. Ihr Geruch. Er bekam nie genug von ihr.
     
    Sie kam aus einem Ort an der Westküste und war erst vor wenigen Monaten von zu Hause ausgezogen, nach der Beerdigung ihrer Mutter. Sie hatte keine Familie mehr, nur noch einen ewig betrunkenen, grapschenden Stiefvater. Eines Abends, nachdem der Stiefvater sie von hinten angefallen hatte, während sie an der Spüle stand, war sie abgehauen. Sie hatte alles Geld, das sie finden konnte, und den Schmuck ihrer Mutter mitgenommen und war nach Oslo gefahren. Niemand vermisste sie. Niemand machte sich etwas aus ihr. Nur er. Er
sah
sie, sah sie ganz. Beschützte sie, dieses kleine Küken vom Land. Sie war so jung, erst neunzehn. So zart und dünn. Sie brauchte jemanden in der Großstadt. Er führte sie überall herum. Nahm sie mit in den Frognerpark und nach Bygdøy, zeigte ihr das Folkemuseet, die Fram und Kon-tiki. Er fuhr mit ihr zum Frognerseter, wo sie die Aussicht genossen. Wanderte mit ihr in der Nordmarka und zeigte ihre die Wege zum Ullevålseter und zur Skjennungstua.
     
    Als es Herbst wurde, begann sie an der Kunst- und Handwerksschule. Wie sich herausstellte, hatte sie sich schon vor Monaten um die Aufnahme beworben. Und obwohl er lieber gesehen hätte, dass sie nicht studierte, konnte er es ihr ja schlecht verbieten. Zum Glück konnte er es so einrichten, dass er in der Nähe war. Er bekam eine Stelle als Anlagengärtner im Schlosspark, nur ein Stück die Straße hinunter. Sie trafen sich jeden Tag zum Mittagessen, und weil es warm war, kam sie immer zu ihm in den Park. Nach einer Weile, als es kühler und herbstlicher wurde, ging er zu ihr. Ihm gefiel es nicht in der Schule. Er mochte das imposante Gebäude mit den riesigen Türen nicht, die donnernd hinter ihm zuschlugen, wenn er diesen Parnass der Kunst und des Wissens betrat. Mochte die Bilder an den Wänden nicht – die wechselnden Schülerausstellungen in den Gängen. Mochte die Mensa nicht, den offenen Saal mit dem Strich auf dem Fußboden, den man entlanggehen musste, von allen beobachtet, um zum Tresen am anderen Ende zu kommen und sich eine Tasse Kaffee zu kaufen. Es gab keinen kleinen Tisch, an dem nur sie beide Platz gehabt hätten. Einen Tisch musste man sich mit fünf, sechs anderen teilen. Am wenigsten mochte er die struppigen und aufgeblasenen Kunststudenten, die sich mit Vorliebe neben ihnen niederließen. Prahlerisch und ketterauchend führten sie Gespräche, die weit

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