Der Wald wirft schwarze Schatten
viel zu sehen gäbe. Sie kennt sie ja nicht, all diese jungen Leute, die in die alten Häuser gezogen sind. Weiß nicht, wie die jungen Frauen heißen, die ihren Kinderwagen vorbeischieben. Meistens sind sie in Grüppchen unterwegs. Genau wie früher, übrigens. Sie tratschen, das kann sie immerhin gut erkennen – über die anderen, die nicht in ihrer Clique sind. Vielleicht reden sie auch über ihre kleinen Schreihälse. Diese grässlichen Gören, die größer und größer werden, während sie ihren Müttern alle Kraft aussaugen. Kleine Tyrannen mit ewig vollen Windeln, ewig leeren Mägen und riesigen, plärrenden Mäulern.
Sie dreht sich zu Polly um.
«Begreifst du, wie man einen solchen Wind darum machen kann?»
Sie schaut wieder aus dem Fenster. Immer noch keine Aslaug zu sehen. Merkwürdig, wo sie ihr doch sonst von früh bis spät die Türen einrennt. Evelyn seufzt und stellt den Staubwedel zurück, schlurft in den dunklen Flur hinaus, tastet nach dem Lichtschalter. Es macht klick, aber nichts passiert. Ach du Schande, hier auch! Sie blickt hoch zur dunklen Lampe an der Decke, spürt für einen Moment Verzweiflung. Nie im Leben kann sie noch einmal die Birne auswechseln. Letztes Mal hätte es sie fast umgebracht. Wenn sie es jetzt wieder versucht, wird sie garantiert von der Trittleiter fallen. Aber wenn sie keine neue Birne eindreht, stolpert sie im Dunkeln womöglich über den Schirmständer, die Stiefeletten oder die Fußmatte. Was soll sie bloß tun?
Wilhelm, natürlich! Er kann für sie auf die Leiter steigen und all die kaputten Glühbirnen auswechseln. Er, der tüchtige Mann, oben auf der Leiter. Sie unten neben ihm. Sie wird ihm ein bisschen zur Hand gehen, ihm was abnehmen, sich auf die Zehenspitzen stellen, ihm eine neue Birne reichen und sagen: Sei bloß vorsichtig, Junge. Vorsicht, dass du nicht runterfällst. Mein Junge. Mein lieber Junge. Großer Gott, wie heimelig das sein wird!
Sie seufzt zufrieden und geht zurück in die Stube. Öffnet das Buffet, nimmt die Damasttischdecke heraus und breitet sie über den Tisch. Dann sucht sie das gute Service mit dem Möwenmotiv zusammen, das Silberbesteck und die hübschen hellblauen Papierservietten, die sie schon vor Jahren gekauft, aber immer für den richtigen Anlass aufbewahrt hat. Jetzt ist dieser Anlass gekommen. Sie deckt den Tisch und tritt einen Schritt zurück. Fehlt nur noch ein Blumenstrauß. Zu dumm, dass sie gestern nicht daran gedacht hat. Na, da kann man nichts machen. Es sieht trotzdem schön aus. Überhaupt ist es ein hübsches Zimmer. Die Esszimmermöbel. Die Couchgarnitur. Die Spiegelvitrine mit den Glasfiguren. Das Buffet mit den Bildern darüber. Gemälde. Gott sei Dank nicht irgendwelche Fotos, wie sie bei anderen Leuten in der Wohnung hängen. Die eigenen Hochzeitsbilder und die von den Kindern. Enkelkinder, Urenkel. All diese merkwürdig steifen Familienporträts, aufgenommen beim Fotografen. Wie zum Beispiel dieses riesige Baby, das an Aslaugs Stubenwand prangt. Nackt, fett und zahnlos lächelnd auf einem Tierfell. Aber wenigstens ist es ein
ordentliches
Bild. Viel schlimmer sind die unscharfen Fotos, die Aslaug selbst geknipst hat und die in unzählige Fotoalben eingeklebt die Regale füllen.
Offenbar wird sie es nie leid, sie anzuschauen, die gute Aslaug. Und sie ihr zu zeigen. Man kann ja nicht mal zum Kaffee zu ihr kommen, ohne von diesen elenden Fotos erschlagen zu werden, von dem Geprahle über die Angehörigen ihrer offenbar so riesigen Familie. Wo sie sind, was sie machen und wie niedlich dieses oder jenes Kind ist. Aber am schlimmsten ist die Neugier, die sie immer an den Tag legt. Dass sie einen nie in Ruhe lassen kann. Dass sie auf Teufel komm raus wissen will, wie es Wilhelm und seiner kleiner Familie geht. Und damit nicht genug, sie will auch Bilder sehen: Hast du wirklich keine Fotos von ihnen, nicht mal ein einziges?
Nein, sagt sie immer. Sie hat keine, weil sie sich für so was nicht interessiert. Du lieber Himmel, Amateurfotos, verblichene Schnappschüsse aus fernen Sommern, grinsende Kinder, die stolz ihren ersten Fisch hochhalten, erste Schwimmversuche, erster Schultag. Nicht
eine
vergilbte Aufnahme aus längst vergangenen Zeiten findet sich bei ihr, kein einziger schwarz-weißer Moment, den das Sonnenlicht hat ausbleichen können. Wilhelm hat auch kein Interesse daran, sagt sie. So ist das nun mal.
In ihren Regalen stehen Bücher. Das Beste aus
Reader’s Digest
, ausgewählte Weltliteratur in
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