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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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Sonnenlicht flutete von hinten über sie. Über ihren Rücken, über die spitzen Schulterblätter in dem dünnen T-Shirt. Ein schimmernder Fluss aus Licht umspülte sie, während sie langsam mit Schubkarre und Spaten die Lindenallee hinunterging.
    Sie musste es gemerkt haben, möglicherweise hatte auch einer der Männer das Maul nicht halten können. Denn als er eines Tages mit Sägen beschäftigt war, kam sie zu ihm. Er wusste nicht, wie lange sie da gestanden hatte. Vielleicht hatte sie ihn eine gute Weile beobachtet, wie er auf der Leiter stand, mit dem riesigen gelben Helm, und alles andere als intelligent aussah, während er sich mit der Säge an einer Stange abmühte, um einen toten Ast hoch oben im Baum abzunehmen.
    Sie hatte die Hände in die Taille gestemmt und den Kopf schräg gelegt, sah ihn mit ihren großen blauen Augen an, lächelte und sagte: «Ja?»
    Sonst nichts. Er konnte nicht antworten. Stand da wie ein Idiot und glotzte. Benommen und mit einem Gefühl von Übelkeit.
    Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging rasch weg. Ihr Pferdeschwanz schaukelte von einer Seite zur anderen, und der kleine Hintern wackelte. Fast so, als hätte sie sich einen Spaß mit ihm erlaubt. Und dann drehte sie sich noch mal um, sah ihn an und lächelte. Er schaffte es nicht einmal, als Antwort die Hand zu heben.
    Hinterher, nachdem er den Ast abgesägt hatte und von der Leiter geklettert war, schleuderte er den Helm auf den Boden und schlug sich die Hand vor die Stirn. Verdammter Idiot. Was zur Hölle ist los mit dir? Da hatte er die Gelegenheit gehabt, und dann war er unfähig, sie zu nutzen. Wie konnte man nur so blöd sein?
     
    Die Tage vergingen. Er und die Kollegen arbeiteten auf der Ostseite des Friedhofs, wo ein neuer Hain angelegt wurde. Sie fällten Bäume, gruben den Boden um, entfernten Steine, düngten, säten Gras, pflanzten Zierhölzer und maßen Plätze für neue Gräber ab. Die Saisonarbeiter waren auf dem Gelände um das Krematorium beschäftigt. Die Mädchen brachten die Gräber in Ordnung, während die Milchbubis die etwas schwereren Arbeiten verrichteten, alte Gräber aushoben, deren Ruhezeit abgelaufen war und für die niemand mehr bezahlt hatte, und neue Grabstellen über den alten anlegten. Plötzlich gellte ein Schrei von dort herüber und danach lautes Weinen. Die Männer blickten auf, verdrehten die Augen, schüttelten den Kopf.
    «Was stellen die denn jetzt schon wieder an?»
    Zwei unterbrachen trotzdem ihre Arbeit, um nach dem Rechten zu sehen. Er selbst lief auch hinunter, mit hämmerndem Herzen. Ob
ihr
etwas passiert war?
    Sie saß bleich und schluchzend auf der Erde neben einem der Familiengräber. Eine der anderen Saisonarbeiterinnen stand gebückt da und übergab sich, während der blasse Bücherwurm, der den Schaden angerichtet hatte, wie festgenagelt dastand, den Spaten immer noch in der Hand und die Augen auf das offene Grab gerichtet. Wilhelm beugte sich hinunter, sah einen zerstörten Sargdeckel und die halb verweste Leiche eines Kindes. Kein Horrorfilm, den er seitdem gesehen hat, kann sich auch nur entfernt mit dem Anblick messen. Die kleine Leiche war halb von Würmern und Insekten aufgefressen. Was noch an Haut übrig war, war dunkel – lila, grünlich und schwarz, mit Löchern anstelle der Augen, auch der Mund ein klaffend schwarzes Loch. Aber die Zähne waren seltsam weiß, und da war eine Lücke, wo die Vorderzähne fehlten. Zwei Milchzähne waren ausgefallen und keine neuen nachgewachsen, bevor der Tod eintrat. Das blonde Haar war surrealistisch blank und kaum mit Erde beschmutzt. Großer Gott.
     
    Wilhelm merkt, wie ihm schlecht wird. Er zieht die Papiertüte aus dem Netz am Sessel vor ihm, erbricht das beschissene Mittagessen der Fluggesellschaft. Was ist los mit ihm? Damals hat sein Magen nicht rebelliert, vor mehr als dreißig Jahren. Da hat er sich zu ihr umgedreht, zu ihrem mageren Rücken, der unter den Schluchzern bebte, und gedacht – verblüffend kühl und wohlüberlegt –, dass dies seine Chance ist.
    Manches verschwindet nach dreißig Jahren, manches vergeht. Vergeht fast. Aber das, was in dem Grab auf dem Friedhof lag, war kaum ein Jahr unter der Erde. Einer der alten Arbeiter schimpfte den Studenten aus, dem das Missgeschick passiert war, und schickte ihn ins Büro der Friedhofsverwaltung, bevor er zum Spaten griff. Wilhelm war nicht erschüttert. Die Leiche im Grab gab ihm das, was er brauchte. Er liebte das Mädchen, das sonst so selbstsicher wirkte, so

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