Der Wald wirft schwarze Schatten
obwohl das Stück auf der Hauptbühne des ehrwürdigen Nationaltheaters gespielt wurde, war es eine dieser grauenhaften neumodischen Inszenierungen. Dass keiner ordentlich deklamierte, war die eine Sache, alle nuschelten vor sich hin, dass man kaum verstehen konnte, was sie sagten. Aber es gab auch nicht viel zu sehen. Kein Bühnenbild, an dem man sich hätte erfreuen können. Bis auf ein blaues Schwimmbecken in der Mitte war die Bühne vollkommen schwarz. Mit sichtbaren Scheinwerfern, Kabeln und Steckdosen. Und grünen Notausgang-Schildern. Während der endlos langen Vorstellung hatte sie mehr als einmal gedacht, dass sie am liebsten aufstehen, über die Bühne spazieren und durch den Notausgang verschwinden würde.
Die Schauspieler hatten keine Kostüme an, sondern moderne langweilige Kleidung, wie man sie in jedem Laden kaufen kann. Nichts weckte Assoziationen an etwas Majestätisches. Die Königin zog sich kein einziges Mal um, sondern trug die ganze Zeit ein beiges Schneiderkostüm. Ophelia hatte ein dünnes weißes Sommerkleid an und war außerdem barfuß, während Robin in normaler schwarzer Anzughose und weißem Oberhemd auftrat.
Abgesehen davon, dass er manchmal so einen starren Blick hatte, sah er ziemlich gewöhnlich aus. Eine Weile hatte sie fast schon befürchtet, sie hätte sich geirrt. Vielleicht war er es doch nicht? Aber dann fielen die Kleider. In der letzten Szene zogen sie sich aus, die ganze Truppe. Splitternackt. Dass sie anfingen, sich stöhnend auf dem Boden zu wälzen, machte die Sache auch nicht besser. Zwei von ihnen setzten den Fechtkampf fort und stachen wild um sich, dass das Blut nur so spritzte. Und als hätte das noch nicht gereicht, tauchte das brüllende Gesicht des Gespensts in einem Video von riesigen Ausmaßen an der Wand hinter den Nackten auf, die am Ende alle tot auf einem blutigen Haufen lagen.
Erst als er aufstand, um den Applaus entgegenzunehmen, fiel ihr die Ähnlichkeit wieder auf. Er war immer noch nackt, und vielleicht gab genau das den Ausschlag. Sie war rot geworden und hatte begeistert geklatscht.
Dass sie sich wirklich getraut hat, zu ihm hinzugehen! Wenn die nette Garderobiere nicht gewesen wäre, hätte sie es wohl nicht geschafft.
«Ich bin die Großmutter», hatte sie ihr erklärt. «Von Hamlet. Ich möchte gerne zu ihm.»
Die höfliche junge Frau hatte gefragt, ob sie einen Moment warten könne. Und sie hatte geantwortet, dass sie nichts dagegen habe.
«Ich kann so lange warten, wie es sein muss.»
Sie wartete ja schon eine Ewigkeit, hatte schon vor Jahren die Hoffnung aufgegeben. Außerdem hatte sie nichts dagegen, hier zu warten. Es war ein erhebendes Gefühl, im Foyer des Nationaltheaters zu sitzen, auf einem der Plüschsofas unter dem Porträt von Peer Aabel, und die Menschen zu beobachten, die ihre Mäntel abholten und nach draußen gingen. Sie betrachtete die Gemälde von früheren Theatergrößen, bis ihr die Augen langsam zufielen und sie einnickte.
Das Garderobenmädchen hatte sie behutsam geweckt.
«Jetzt sind sie herausgekommen.»
Sie hatte sich verwirrt umgesehen.
«Heraus?»
«Ins Schauspielerfoyer. Dort empfangen sie Gäste.»
Das Mädchen hatte sie hingebracht, hatte mit dem Türsteher gesprochen, der Evelyn skeptisch gemustert hatte, bevor er sie einließ. Da hatte sie die Schultern gestrafft und streng zurückgeblickt, denn sie war ja schließlich eine wichtige Person, die Großmutter des Hauptdarstellers. Wenn sie nicht gewesen wäre, würde es ihn überhaupt nicht geben.
Dort drinnen fand ein Empfang statt, eine Art Cocktailparty, denn niemand saß. Gläser wurden erhoben, Ansprachen gehalten und Blumen überreicht. Die Schauspieler waren zum Glück wieder angezogen. Ihr wurde bewusst, dass sie sehr lange nicht mehr auf einem Fest gewesen war. Aber irgendjemand hatte ihr ein Glas Champagner in die Hand gedrückt. Sie, die seit einer halben Ewigkeit keinen Alkohol mehr getrunken hatte, stürzte es hastig hinunter, bevor der Aufpasser sie zu Robin führte.
Er dachte bestimmt zuerst, sie hätte sich dorthin verirrt. Aber dann schien es, als würde er sie wiedererkennen. Wie auch immer, der Brief wird es erklären, der Brief wird ihm alles ganz deutlich machen. Und wenn er kommt, wird er den Rest erfahren. All das, was ihr am Herzen liegt. Es gibt eine Verbindung zwischen uns. Ich bin mit jemandem verbunden. Diese Karte, diese Hütte. Dort hat alles angefangen. Dein Vater weiß auch nichts davon. Stell dir vor, er weiß nicht,
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