Der Wald wirft schwarze Schatten
ist doch nicht ihre Schuld, dass es ihm so schlecht geht, dass er auf dem besten Weg ist, einen beschissenen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Es ist nicht ihre Schuld, dass er sich so ausgehöhlt fühlt und versucht, mithilfe von Alkohol besser zu schlafen, sodass am Ende auch noch die Tage im Eimer sind. Es ist nicht ihre Schuld, dass er seinen Regisseur nicht leiden kann und das Gefühl hat, er käme in der Rolle als Hamlet zu kurz. Und es ist auf keinen Fall Lukas’ Schuld. Lukas will einfach nur mit seinem Vater zusammen sein.
Warum also nicht mit ganzem Herzen dabei sein, wenn man die Möglichkeit hat, mit seinem Kind etwas Tolles zu erleben? Natürlich machen sie diesen Ausflug. Er hat
Bedeutung
. Sie machen etwas
gemeinsam.
Auch wenn er momentan vielleicht nicht den besten Ehemann der Welt abgibt, kann er doch ein guter Vater sein. Kann sich auf Lukas’ Spiel einlassen und es mit ihm gemeinsam spielen. Die Entdeckungsreise. Er kann sich von dem Enthusiasmus des Jungen anstecken lassen.
Er schaut auf die Uhr. Schon vier. Wie hat er es nur geschafft, den ganzen Tag zu verbummeln? Wenn sie so weit fahren wollen wie auf der Karte eingezeichnet, ist nicht gesagt, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit dort sind. Und dann heißt es auf in den Wald. Nein, sie müssen wohl bis morgen warten. Dann haben sie genügend Zeit.
Ich und du. Du und ich. Am Anfang gab es nur uns beide. Wir waren die ganze Zeit zusammen. In der kleinen Wohnung. In dem kleinen Auto, raus aus der Stadt und hinaus in den Wald. Der Wald war groß. Nur wir beide in dem riesengroßen Wald! Wir waren Hänsel und Gretel und verliefen uns. Kamen an ein Häuschen. Pfefferkuchenhäuschen. Wir sahen keine Hexe. Keinen Troll. Aber sie waren wohl trotzdem dort?
Wir hielten zusammen. Hielten einander. Auf dem Pfad. In der Sonne, unter den Bäumen. Im Bett. Du hast mich heiß und fest im Arm gehalten. Du hast mich so fest gehalten. Aber dann wurde es eng in dem schmalen Bett. Eng in dem kleinen Zimmer. So fürchterlich eng, wenn deine Augen mich ansahen. Dein Blick war allgegenwärtig. Du schautest und schautest und schautest. Ich war schon lange weg, bevor ich verschwand. Oder nicht? Ich bin zu Krümeln und nichts zerfallen, wie das Bild in einem Fernseher mit kaputtem Empfänger. Und dennoch vermisse ich dich manchmal, deinen starren Blick. Denn man existiert erst im Blick eines anderen. Es gibt dich erst, wenn du gesehen wirst. Was, wenn du mich jetzt sehen würdest? Kniekehle am Kinn, Schulterblatt am Schlüsselbein, Ellbogen an der Fessel, Rückgrat am Schädel. Zusammengefallen, schief.
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12
Wilhelm schiebt den Koffer hinter den Sitz und setzt sich. Einen Moment später steht er wieder auf. Zieht den Koffer hervor, stellt ihn auf den Nachbarsitz. Der Zug fährt an. Leute stehen hinter ihm und wollen vorbei, voller Ungeduld auf der Suche nach einem Platz. Er nimmt sich die Zeit, die er braucht, dann setzt er sich wieder hin. Sie gehen vorbei. Ein leichter Wind folgt ihnen, ein Luftzug, dann nehmen sie ihm gegenüber Platz. Eine junge Frau mit einem kleinen Kind. Sie ist blond und dünn. Dünn auf diese Art. Aber das Kind ist anders. Wilhelm schaut aus dem Fenster, blickt auf die vorbeiziehenden Masten, während der Zug aus dem Bahnhof rollt.
«Mama», sagt das Kind mit heller Stimme. «Sind wir bald da?»
«Nein», sagt die junge Mutter. «Aber es dauert nicht lange. Und dann kommt Papa und holt uns ab.»
«Papa», sagt das Kind.
Wilhelm umklammert die Armlehnen, hält sich fest. Es ist nichts. Er hat nur die Sprache so lange nicht mehr gehört, und das Plappern eines Kindes. Außerdem ist er übermüdet, hat Jetlag und den ganzen Tag noch nichts gegessen. Er wird das gleich nachholen, wenn er in die Stadt kommt. Erst einmal konzentriert er sich auf die Landschaft vor dem Zugfenster. Äcker, auf denen das Getreide geerntet, die Erde gepflügt ist. Rote Scheunen und weiße Wohnhäuser. Blauer Himmel über goldgelbem Laub. Und die klare Luft, die so ganz anders ist als der ewige Dunst in Pennsylvania.
Sieht Oslo noch so aus wie früher? Oder hat sich die Stadt verändert? Er hat sich noch keine Gedanken darüber gemacht. Norwegen war so weit weg. Eine Konstante in seinem Bewusstsein, aber trotzdem irrelevant. Er wollte ja nicht mehr hierher zurück.
Etwas ist offensichtlich anders. Es gibt einen Airport-Shuttle und einen schicken neuen Flughafen in Gardermoen. Er hatte sich vorgestellt, dass er in Fornebu ankommen würde,
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