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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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unverändert aus. Ein Mini-Schweizerhaus, klein und grauweiß, mit ausgesägten Ornamenten an den Traufbrettern unter den Giebeln, einer spitzenumsäumten Veranda und praktischen Kippfenstern, die längst die Sprossenfenster ersetzt haben, an die er sich aus seiner frühen Kindheit erinnert. Die Fliederbüsche sind lang ausgeschossen und verwildert und lehnen sich schwer gegen den schiefen Zaun. Er weiß noch, wie es war, als sie vor der weißen Holzhausidylle blühten.
    Sieh nur, wie schön sie sind, pflegte Mutter zu sagen, mit einer ganz anderen Stimme als sonst. Er stand neben ihr, betrachtete die Blütentrauben und versuchte, das Gleiche zu empfinden wie sie. Aber er spürte nichts anderes als den Wunsch, dass sie lieber
ihn
ansehen sollte. Sie tat es nicht. Und dann welkten die Blüten. Die dicken Rispen wurden hässlich und braun. Er hätte sie am liebsten mit einem Stock abgeschlagen.
    In Amerika sieht man Flieder nur selten. Die Amerikaner sind praktisch veranlagte Menschen, sie wollen etwas, das lange blüht. Aber hier ist man zufrieden, wenn etwas sich eine gute Woche lang hält, ebenso wie man auch dankbar für den viel zu kurzen Sommer ist. Er legt die Hand auf die Gartenpforte, holt tief Luft und geht auf das Haus zu. An der Ecke steckt eine Flagge. Daneben liegt eine umgekippte Trittleiter. Er hebt sie auf und klappt sie zusammen, stellt sie an die Wand neben die Flagge.
    «Geflaggt, na», murmelt er. Dann muss die Königin wohl Geburtstag haben, oder so was in der Art. Darin war sie schon immer gut, den Majestäten Ehre zu zollen. Er geht zur Haustür und drückt auf den Klingelknopf, lässt ihn aber schnell wieder los. Das Geräusch ist schrill und laut, anders als früher. Er wartet, aber nichts passiert. Klingelt noch mal, diesmal länger. Nichts rührt sich hinter dem schmalen Fenster. Er drückt die Türklinke hinunter, aber es ist abgeschlossen.
    Er dreht sich um und betrachtet den kleinen Garten. Halbtote Rosen und ein paar struppige Beerensträucher ertrinken beinahe in einem Meer aus Giersch, Brennnesseln und Löwenzahn. Ein paar Töpfe mit verdorrten Stiefmütterchen liegen achtlos hingeworfen in einer Ecke, während der Rhododendron offenbar außer Kontrolle geraten und ein richtiges Monstrum geworden ist. Hässlich sieht das aus.
    Er könnte das in ein paar Tagen in Ordnung bringen. Mit dem Rasenmäher das Unkraut abmähen, an den schlimmsten Stellen die Erde ausheben und neu auffüllen, die alten Sträucher herausreißen und ein paar neue Rosen vor der weißen Hauswand pflanzen. Red Robin oder Coral Dawn. Er spürt beinahe wieder etwas von dem alten Drang, sie zu überraschen. So wie damals mit zehn, zwölf Jahren, wenn er in den Garten schlich und im Herbst Zwiebeln setzte. Im Frühling Blumen einpflanzte, die er in kleinen Töpfen hinter der Gardine in seinem Zimmer gezogen hatte. Wichtig war, den Moment zu erleben, wenn sie sie entdeckte – die Pflanzen, die aus dem Boden sprossen. Er gab sich alle Mühe, ganz natürlich zu klingen: Hast du schon gesehen, draußen im Garten, Mutter? Ich glaube tatsächlich, da gucken ein paar Schneeglöckchen heraus. Osterglocken sind auch gekommen. Studentenblumen und Astern. Waren die vorher schon da, Mutter? Sie ging hinaus, betrachtete sie und lächelte. Nein, wie hübsch. Sind die schön. Aber sie bedankte sich nicht. Sagte nicht: Mein Junge, hast
du
das alles gemacht? Vielleicht glaubte sie wirklich, der Garten hätte die kleinen Wunderwerke ganz allein hervorgebracht, ein Ergebnis von Bienen und Blumen. Und er dachte – versuchte, sich an den Gedanken zu klammern –, sie freut sich darüber. Hauptsache, sie zeigt, dass sie sich freut.
    Er findet den Steinplattenweg, kaum erkennbar unter dem Unkraut und der Quecke, folgt ihm ums Haus herum bis zur Kellertreppe. An dieser Seite, die nicht zur Straße liegt, durfte die Farbe abblättern. Die Wand ist nackt und grau, ganz unten haben sich Feuchtigkeit und Grünbelag festgesetzt. Er probiert es an der Kellertür. Abgeschlossen. Er hebt den Blumentopf an, der daneben steht. Tatsächlich, da liegt der Schlüssel, genau wie früher. Er lässt sich bereitwillig im Schloss drehen. Wilhelm tritt ein, geht durch den feuchten Kellerflur bis zu dem Raum, der einmal das Fernsehzimmer war. Immer noch dieselbe schmutzig gelbe Farbe an den Wänden, und der alte Fernseher steht auch noch an seinem Platz. Aber ansonsten ist der Raum völlig zugemüllt. Stapel von Heftromanen und Zeitschriften, haufenweise alte

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