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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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Hausaufgaben erledigte, dass er in den Rechenaufgaben nie einen Fehler machte und alle norwegischen Geschichtsdaten auswendig konnte. Er sang sogar im Schulchor, hatte er doch so eine schöne, glockenreine Stimme. Er starrte dann immer zu Boden, knallrot im Gesicht. Fixierte den gemusterten Teppich. Es war ja alles gelogen. Er war nicht gut in der Schule und hatte nie im Chor gesungen. Der Teppich liegt noch da. Und an der Wand steht noch immer das moosgrüne Plüschsofa, auf dem er nie sitzen durfte.
    Sein Blick gleitet wieder über den Tisch. Er erinnert sich, wie es war, wenn sie Weihnachten feierten. Nur sie beide, Mutter und er. Sie hatte die bestickte Tischdecke aufgelegt, die mit den lachenden Weihnachtsmännern, und die Weihnachtskrippe auf die Anrichte gestellt. Eine Familie, aus Holz geschnitzt, mit Vater und Mutter, Engeln und Königen, alle mit zärtlichen Gesten dem kleinen Jesuskind zugewandt. Besonders dann spürte er den unpassenden Drang, wissen zu wollen, wie alles mit allem zusammenhing. Warum wohnte kein Vater bei ihnen? Wo war er? Wer ist er? Bei seinen ungeschickten Andeutungen bildeten sich weiße Flecken auf ihren Wangen, und ihre Stimme wurde noch schärfer als gewöhnlich. Jetzt, wo wir es gerade so gemütlich hatten. Er machte schnell einen Rückzieher, durfte sie nicht aus der Fassung bringen. Musste sie mit einem Thema locken, über das sie gern sprach. Wie die wunderbaren Weihnachtsfeste in ihrem Elternhaus. Es war nicht schwer, sie zum Erzählen zu bewegen. Die Weihnachtsfeste ihrer Kindheit auf dem großen Gutshof auf dem Land waren wie ein Märchen aus dem Bilderbuch gewesen, mit einem riesigen Weihnachtsbaum, der auf das Herrlichste geschmückt war. Es gab Hunderte phantastische Geschenke, und ein Dutzend Kinder hüpften jubelnd vor Freude herum. Es gab Dienstmädchen, zwölf Sorten Gebäck, Hirschbraten und alle nur denkbaren Delikatessen wie kandierte Früchte, glasiertes Gemüse und einen Fasan in der Mitte der Tafel, noch im Federkleid. Hunderte von Kerzen funkelten mit den Kristallgläsern und dem blankgeputzten Silber um die Wette. Und die Kleider, die sie gehabt hatte, aus echter Seide! Sie war so hübsch gewesen, die Schönste von allen, sie war der eigentliche Mittelpunkt. Aber das würde sie ja nun nie mehr erleben. So, nun musste er aber endlich fertig werden mit Essen und aufhören, so ein Gesicht zu ziehen. Schön aufessen die Kartoffeln. Habe ich dir nicht extra Zucker auf den Blutpudding gestreut? Oder ist es mal wieder Zeit für die Kammer?
    Er dreht sich um. Lässt den Blick über die Kitschbilder an der Wand schweifen und weiter zu den kleinen ovalen Rahmen mit den gepressten Blumensträußen. Ihm fällt ein, dass er beim Pflücken geholfen hat. Flüchtige Erinnerungsfetzen, auf einer Blumenwiese, suchen und finden. Suchen und finden. Nur die allerschönsten Blumen für sie. Wie sie sich anschließend damit beschäftigte, die Blumen sortierte, zu anmutigen kleinen Sträußchen arrangierte, sie in Büchern presste. Ihre Finger bewegten sich so behutsam. Dann erlaubte er sich, sie zu bewundern, nahm sich heraus, danebenzustehen und ihr zuzusehen, bis sie den Kopf hob und ihn ansah und sagte: Was glotzt du so?
    Sein Blick wandert weiter zu der Glasvitrine mit den kleinen Kristallfiguren. Einmal hatte er einen Stuhl an die Wand geschoben, war hinaufgeklettert und hatte die Vitrine geöffnet. Er hatte eins der Figürchen herausgeholt, ein Schwan war es wohl. Hatte ihn in Richtung Fenster gehalten und probiert, ob er das Sonnenlicht einfangen, es in die Stube hereinholen könnte. Wie hatte sie geschrien, als sie ins Zimmer kam. Er war so zusammengezuckt, dass er die kleine Figur fallen ließ, und der Hals brach in der Mitte durch. Der jähe Schlag in den Nacken war so hart, dass er vom Stuhl fiel. Er versuchte nicht, sich vor den Schlägen zu schützen, lag einfach nur da und starrte den Kopf der kleinen Kristallfigur an. Der war noch heil, obwohl er nicht mehr mit dem Körper verbunden war.

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    16
    Hier endet der Schotterweg. Eine von hohem gelbem Gras überwachsene Sackgasse, die in einen ebenso zugewachsenen Wendeplatz mündet. Robert lehnt sich über das Lenkrad, schaut hinaus. Rund um den Wendeplatz ist dichter Wald, so dicht, dass er undurchdringlich erscheint. Das ist die Wildnis, keine Frage. Er schluckt.
    «Sind wir da, Papa?»
    Er sieht in den Rückspiegel und begegnet Lukas’ aufgeregtem Gesicht. «Sieht fast so aus», sagt Robert und

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