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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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lautes Geräusch aus. Viele große Steine sind bereits heruntergefallen und liegen kreuz und quer am Grund der Schlucht, was das Vorwärtskommen immer schwieriger macht.
    «Papa?»
    «Ja.»
    «Ist das die Tiefe des Waldes?»
    «Wenn es so einen Ort gibt, muss er hier sein. Komm jetzt. Wir beeilen uns ein bisschen.»
    Schnell und behände klettert er über die Steinblöcke, balanciert, rutscht zu Boden. Er dreht sich um und hilft dem Jungen – hebt ihn hoch und setzt ihn ab. Ruhig und vorsichtig. Nur keinen Stein bewegen, keinen Ast zerbrechen, nicht den Zorn des Waldes wecken, sodass die Wände einstürzen, sich über ihnen schließen und sie erdrücken. Rauf und runter, sie gehen schnell, fast ohne Atem zu holen. Und endlich öffnet sich die Kluft, die hohen Wände weichen zurück, und über ihnen breiten sich große Baumkronen aus, in sanfter Bewegung.

[zur Inhaltsübersicht]
    17
    Das Zimmer dreht sich leicht, sie klammert sich ans Bett, blinzelt. Wie hell es ist, so schrecklich hell. Alle Birnen müssen ausgewechselt, alle Fenster geputzt worden sein.
    Evelyn dreht den Kopf, sieht sich um. Nein, das sieht nicht nach ihrem Zimmer aus. Die Tür ist an der falschen Stelle. Das Bett. Die Sonne auf der Wand. Wo ist sie? Ein plötzlicher Schreck. Die Fenstersprossen sind ein Kreuz, von dem die Sonne herabscheint. Ist das die Beerdigung? Ist das das Grab? Wo sind die Blumen? Sind keine Blumen gekommen? Sie erkennt einen Schrank in der Ecke, einen Stuhl an der Wand, darüber ein gerahmtes Bild. Was soll das darstellen? Sie kann es nicht sehen. Wo ist ihre Brille? Wo sind die Sachen? Der Raum dreht sich, das Bett schaukelt, ihr wird übel, sie schließt die Augen.
    Sie ist natürlich auf dem Meer. Segelt auf glatten Wellen, treibt auf ein anderes Land zu. Sie ist auf dem Atlantik, auf dem Weg in die Vereinigten Staaten. Sie kennt dort jemanden. Sie wird ihren Sohn treffen. Auf einer Avenue, einem Boulevard, unter den Wolkenkratzern. Sie werden zusammen durch die Straßen gehen. Nicht allein. Niemals mehr. Allein? Hier ist jemand, mehrere, sie flattern herum, huschen an ihr vorbei. Hallo? Sie kann sie nicht richtig erkennen, sie sieht noch schlechter als vorher. Meine Brille? Hallo!
    Sie antworten nicht, hören nicht. Sie sind Schmetterlinge, groß und schneeweiß. Oder vielleicht sind es Engel? Dann muss dies der Himmel sein. Die Sonne ist näher als sonst, und das Bett ist weiß und weich wie eine Wolke. Der Bettbezug duftet nach Seife. Nichts stinkt oder muffelt, ist ranzig oder schimmlig. Alles ist sauber im Himmel. Unbesudelt und in schönster Ordnung. Wer hätte gedacht, dass es nun doch so gekommen ist? Irgendwo muss es Gnade geben. Vergebung. Sie blickt hoch. An einem Gestell über dem Bett hängt ein Beutel mit schimmernder Flüssigkeit. Ein Schlauch ist an ihrem Arm befestigt. Was soll denn das nun bedeuten? Eigentlich müsste sie es wissen. Aber ihr Kopf ist immer noch vollkommen leer.
    Jetzt sprechen sie wieder, die Engel. Sie hört die goldenen Stimmen, sieht die Flügel hinter ihrem Rücken flattern. Aber sie kann die Worte nicht unterscheiden. Ihre Ohren sind so faltig, die Haut ist so verschrumpelt. Und die Augen sind von diesem Nebel eingehüllt. Sie zwinkern. Gehen auf, gehen zu, richten sich auf die Weißgekleideten. Ihr da drüben, ihr Engel – hallo? Könnt ihr hierherkommen? Sie will sprechen, rufen. Will die Hand heben, ihnen winken, aber die rührt sich nicht. Hallo? Einer von ihnen kommt herüber, ein Schatten, eine Gestalt. Er wird größer und größer. Eine riesengroße Figur. Ein dunkles Gesicht, undeutlich. Eine enorme Hand, die nach ihr greift, ihr Handgelenk umschließt. Lass mich los. Loslassen! Ein Blick, der sich über sie beugt, sie mit großen Augen anstarrt. Ist dies das Jüngste Gericht?
    «Wird Zeit, Bescheid zu geben», sagt er. «Verständigt die Angehörigen.»
    Angehörigen? Sie hat doch keine Angehörigen. Sie hat überhaupt niemanden. Sie ist ganz allein. Mit den Möbeln, den Gardinen und der Altersrente. Allein mit ihren Bildern. Stückchen von Sommerwiesen vor sehr langer Zeit. Blumen, die zu Erde geworden wären, wenn sie sie nicht eingefangen und unter Glas bewahrt hätte. Schöne Sträuße, echte. Keine verblichenen Fotografien von Leuten. Hörst du? Leute verschwinden nur!
    Aber sie ist im Himmel. Denn sie war gut, immer so gut. Sie hat ihr Bestes getan, hat hart gearbeitet. Für einen Hungerlohn geschuftet, fernab der feinen Gesellschaft. Aus der einen verjagt, in die

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