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Der Waldläufer

Titel: Der Waldläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Ferry
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Miene um sich her, und seine schlaftrunkenen Augenlider schlossen sich nochmals, als ein heftiger Stoß Don Antonios es wieder aufweckte und seiner Betäubung ein Ende machte. Das Kind schauderte inmitten der eisigen Luft, die durch das offene Fenster in das Zimmer drang, und beim Anblick eines Unbekannten, beim Anblick seiner bleichen und zitternden Mutter, deren Gesicht in Tränen schwamm, fing es an, vor Schrecken zu zittern, und barg sich weinend an ihrem Busen.
    Don Antonio – nachdem er mit gebieterischer Miene Eile befohlen hatte – zog sich ans Fenster zurück, aber ohne seine Augen von Doña Luisa abzuwenden. Die unglückliche Mutter unterbrach sich unendlich oft in einem gewöhnlich so süßen, jetzt aber so herzzerreißenden Geschäft, drückte zärtlich jedes Kleidungsstück ihres geliebten Sohnes und bedeckte mit glühenden Küssen jeden Teil seines Körpers, den ihr Mund erreichen konnte. Sie tat es, um einige kostbare Augenblicke zu gewinnen; um den schrecklichen Moment zu verzögern, wo ihr Sohn angekleidet vor ihr stand und aufhören mußte, ihr zu gehören. Bis dahin war sie ja noch immer seine Mutter; sie konnte ihn immer noch umarmen. Nur einen Augenblick mehr gewonnen, dachte sie, und vielleicht schickt Gott in seiner Barmherzigkeit einen Retter! Und wenn auch Gott die wahrscheinliche Vollendung dieses abscheulichen Verbrechens zugeben sollte – war der Gewinn einer Minute nicht soviel wie hundert Küsse, die sie ihm noch geben konnte?
    In der Freude wie im Schmerz gibt es Grenzen, die die menschliche Schwäche nicht überschreiten kann – jenseits dieser Grenzen würden die Bande des Lebens zerreißen. Gott hat es so eingerichtet, damit nicht das durch ihn hergestellte Gleichgewicht aufgehoben werde. Dies geschah auch im letzten Augenblick der Trennung der Mutter von ihrem so heißgeliebten Kind: Alles war beendet, der Retter war nicht erschienen; aber beim letzten Kuß, bei der letzten Umarmung bedeckten die Augen Doña Luisas sich mit einem Schleier; die Empfindungslosigkeit ihres Körpers ließ den Seelenschmerz aufhören; sie stieß einen schwachen Schrei aus und fiel in eine tiefe Ohnmacht.
    Don Antonio hatte diese Entwicklung wahrscheinlich vorhergesehen, und sie durchkreuzte seine ferneren Pläne nicht; kurz, er beleuchtete kaltblütig mit der Lampe das bleiche, leblose Antlitz der Gräfin, um sich zu überzeugen, ob sie noch atme, und ohne sich um das stille Weinen des Knaben zu kümmern, der vor Schreck nicht schreien konnte, schob er den Riegel vor die Eingangstür. Dann öffnete er einen Schrank von schwarz poliertem Eichenholz, der der Gräfin als Schreibtisch diente, raffte die Schmucksachen und das Gold, das er darin fand, zusammen und legte es in die einzelnen Fächer – steckte auch in der Eile einige Papiere in seine Tasche –, dann packte er alle Frauenwäsche zusammen und legte sie in andere Möbelstücke.
    Während dieser Zeit schluchzte der Knabe immer noch, während er seine Mutter umfaßt hielt, deren kalte Empfindungslosigkeit für ihn eine Quelle geheimnisvollen Schreckens war.
    Das Zimmer bot bald den Anblick der Unordnung dar, die einer großen Reise vorauszugehen pflegt. Die geleerten Schubfächer lagen hier und dort verstreut auf dem Fußboden, die Flügel des Schranks standen halb offen – mit einem Wort: alles bezeugte die Vorbereitungen zu einer schleunigen Abreise.
    Nachdem Don Antonio seine Durchsuchung beendet hatte, setzte er sich, seine Stirn trocknend, auf den Lehnsessel, den die Gräfin einige Zeit vorher eingenommen hatte, und blickte aufmerksam um sich her. Als dieser Blick auf den Körper der Gräfin fiel, die immer noch leblos dalag, und auf ihr Kind, das ihre Hand gefaßt hatte, schien sich seiner ein schrecklicher Gedanke zu bemächtigen. Er stand schon halb auf – dann setzte er sich wieder, als ob ein Kampf in seinem Herzen zwischen zwei entgegengesetzten Ideen sich entsponnen hätte. »Nein!« rief er endlich. »Ein Opfer ist genug! Aber er ... er ... er ist sein Blut, und ich will es nicht vergießen.« Und um den Gang seiner Gedanken zu ändern und einer unwiderstehlichen Versuchung zu entrinnen, ging er rasch ans Fenster, ließ ein leises Pfeifen ertönen, und einige Sekunden später erschien ein Kopf über dem Balkon, und einer von den Männern, die Pepe schon gesehen hatte, stieg herüber und trat in das Zimmer.
    Der Matrose sah kaltblütig auf die Szene, die sich seinen Augen darbot, und wartete auf die Befehle, die er empfangen

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