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Der Waldläufer

Titel: Der Waldläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Ferry
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konnte, jeder Beobachtung entgangen zu sein – besonders in dem Augenblick, wo alle Gäste der Hacienda sich auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten –, aber der Zufall hatte ihn, wie wir eben gesehen haben, verraten.
    Obwohl die Nacht nicht so dunkel war, als Cuchillo und Don Estévan gewünscht hätten, um sich ungesehen zu nähern, so konnten sie doch ohne Geräusch an der Ringmauer entlangschlüpfen. Ein kleines, ziemlich dichtes Orangen- und Zitronenwäldchen, das einen süßen Duft ausströmte, den die Nachtluft in sich aufnahm, war der Ort, den man erreichen mußte. Glücklicherweise warf der Mond seine Schatten nach der Seite der Mauer hin, und jene konnten somit das Gebüsch unbemerkt gewinnen. Hier angelangt, hörten sie schon das bald unbestimmte, bald deutliche Murmeln der Fragen und Antworten. Als sie mit noch mehr Vorsicht mitten in das dichtbelaubte Holz geschlüpft waren, wurde es ihnen leicht, dank der Ruhe in der Luft, die von keinem Lärm unterbrochen wurde, auch die leisesten Worte zu verstehen.
    »Was Ihr auch hören mögt«, sagte Don Estévan Cuchillo leise ins Ohr; »bleibt ruhig wie ich.«
    Gut, dachte Cuchillo, ich allein bin jetzt beteiligt; eine Beleidigung gegen mich und nicht gegen dich habe ich zu rächen, und bei allen Teufeln, ich bin neugierig, zu erfahren, ob ich denn wirklich nichts weiter mehr bin als ein Dummkopf.
    Alle beide machten Anstalten zu hören und zu sehen. Ein Raum, den ein gewandter Mann mit zwei Sprüngen durchmessen konnte, ein schwacher Zaun von kleinen Zweigen und Blättern trennte sie allein von demjenigen, den sie belauschen wollten und der weit davon entfernt war, die Gefahr, in der er schwebte, zu ahnen.
    Wenn die spanischen Sitten heutzutage in Spanien nicht mehr ganz so sind wie vor zwei Jahrhunderten, so hat doch Mexiko sie in ihrer ganzen traditionellen Reinheit bewahrt. Der Fremde, der in die großen Mittelpunkte mexikanischer Bevölkerung kommt, kann sich leicht einbilden, plötzlich mitten in eine Stadt des Mittelalters versetzt zu sein. Es ist fast, als ob er plötzlich eine aus der Erde wiedererstandene Gesellschaft vor sich sähe mit den fremdartigen Sitten, dem malerischen Anzug und den barbarischen Bräuchen der Zeit vor dreihundert Jahren. Der Reisende in Mexiko wird ohne Zweifel an der Oberfläche einen schwachen Abglanz europäischer Gesittung finden; im Grunde aber hat das seltsame, fremdartige Wesen sich noch gar nicht verloren. In den fernen Gegenden, wo die Ereignisse dieser Geschichte sich zutragen, in jenen abgelegenen Provinzen, an deren Grenzen indianische Wildheit tobt, findet man nicht einmal mehr diese oberflächliche Ähnlichkeit mit Europa, und der Schriftsteller, der hier die Sitten schildern will, muß sich darauf gefaßt machen, wider seinen Willen zu jenen Episoden zurückgehen zu müssen, die aus den Zeiten Guzmáns von Alfarache, Don Juans de Maraña und aller jener Helden mit Mantel und Schwert aus der spanischen Überlieferung entlehnt zu sein scheinen.
    Anfänglich, eine Zeit hindurch – und die Zeit schien den beiden Lauschern sehr lang –, hörten sie nur jene gewöhnlichen Redensarten eines Liebenden, der sich in zärtlichen Klagen und Vorwürfen ergießt, die er für wohlverdient hält; der sich in Beweisen erschöpft, die ihm unumstößlich scheinen, während die Frau sie spielend mit jener freien, bestimmten und fest geschlossenen Logik widerlegt, die sie mit so großem Erfolg gegen den Mann anwendet, den sie nicht liebt. War Tiburcio wirklich ganz in dem Fall, wo das Ohr der Frau taub ist, weil ihr Herz stumm bleibt? Das Folgende wird es uns lehren; fassen wir zunächst den Anblick der Szene auf, wie sie sich unter den Augen Don Estévans de Arechiza und Cuchillos gestaltete.
    Ein schwacher Lichtglanz, der sich aus dem offenen Fenster Doña Rosaritas hervorstahl, verlor sich auf dem Sand des Gartens. Hinter starken Eisenstäben stand aufrecht das junge Mädchen, weiß gekleidet, in einer Stellung voll Anmut und Ungezwungenheit, und trat aus der erleuchteten Fensternische wie eine geheimnisvolle, strahlende Erscheinung hervor. In einer solch milden, balsamischen Nacht war sie womöglich noch verführerischer als im Salon der Hacienda; denn gerade durch das Gitter ihres Balkons hindurch scheinen die Frauen spanischen Ursprungs den mächtigsten Zauber auszuüben. Der seidene Schleier umhüllte ihr Haupt, und dessen zarte Falten wogten bei jeder unwillkürlichen Bewegung wie die Federn der Taube über Hals und

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