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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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Gesang, denn nach ihm richten sich Tanz und Musik.«
    »Es war ganz anders als alles, was ich bisher an Musik und Tanz gesehen habe.«
    »Wir Gitanos sind auch ganz anders als alle anderen Völker, und deshalb haben wir es unten in Andalusien ähnlich schwer wie die Juden und die Mauren. Stell dir vor, die Payos, wie wir die Nicht-Zigeuner nennen, haben in den großen Städten des Südens Gitanerias eingerichtet, Viertel, in denen wir zusammengepfercht leben müssen, weil wir von unseren Sitten und Gebräuchen nicht lassen wollen. Sie heißen Triana in Sevilla, Santiago in Jerez, San Fernando in Cadiz. In diesen Stadtvierteln vegetieren wir auf engstem Raum, in den unwürdigsten Verhältnissen, wir, ein Volk, dem die Freiheit über alles geht!« Vitus wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, wie Ohnmacht und Zorn in ihr wuchsen angesichts der Unmenschlichkeiten, über die sie sprach. Zart streichelte er ihr mit der freien Hand über den Rücken.
    »In den Gitanerias steht die Wiege des Flamenco«, erzählte sie weiter. »Wir, mein Vater Santor und ich, kommen aus Sevilla, wo wir unsere Familie verlassen mussten.«
    »Magst du darüber reden?«
    »Ja, heute ja. Du hast mich schon einmal danach gefragt, aber damals war ich noch nicht so weit.« Wieder küsste sie die Hand, die auf ihrer Brust lag. »Jetzt ist es anders. Also, hör zu: Es ist ungefähr anderthalb Jahre her, als ich Rubo heiraten sollte. Mein Vater, meine Mutter und unsere ganze Familie, wir alle lebten damals in Triana. Es ging uns nicht gut, aber es ging uns auch nicht schlecht. Wir hatten uns auf die Umstände eingestellt. Vater arbeitete als Schmied, denn dieser Beruf ist einer der wenigen, die ein Zigeuner ausüben darf. Er hatte die Hochzeit schon vor langer Zeit mit Rubos Vater ausge-macht, alle Feierlichkeiten und Geschenke waren immer wieder bis ins Kleinste abgesprochen worden. Meine Mutter wollte mir ihr Brautkleid überlassen, ein kostbares Familienstück, das sogar schon von meiner Großmutter und deren Mutter bei ihrer Hochzeit getragen wurde.«
    »Du hast dir deinen Bräutigam nicht selbst ausgesucht?«
    »Nein, das ist bei uns Gitanos nicht üblich. Aber es war für mich auch kein Problem. Du musst wissen, dass die Liebe und der Zusammenhalt innerhalb einer Zigeunerfamilie sehr stark sind. Wir achten und verehren unsere Eltern, es würde uns niemals einfallen, ihnen nicht zu gehorchen. Ich gebe aber zu, dass ich insgeheim recht froh war über die Wahl meiner Eltern, denn Rubo war ein stattlicher junger Mann, mit blitzenden Augen und einem verwegenen Gesichtsausdruck.« Sie seufzte. »Er hatte immer gute Laune und lachte gern.«
    »Soso.«
    »Du brauchst nicht eifersüchtig zu werden!«, erriet sie seine Gedanken. »Das alles kommt mir heute vor, als war es hundert Jahre her. Also, am Abend vor der Hochzeit wollte ich zu meiner besten Freundin gehen, die in einer Parallelgasse wohnte, um mir von ihr eine goldene Halskette mit einem wunderschönen Turmalin auszuleihen, denn nach langem Überlegen war ich zu dem Schluss gekommen, dass diese Kette am besten zu meinem Hochzeitskleid passte. Dann, ja, dann passierte es.«
    Er spürte, wie sie erschauerte und sich an ihn drückte.
    »Du brauchst es mir nicht zu erzählen, wenn es dir zu schwer fällt.«
    »Doch, ich will darüber sprechen.« Sie atmete tief aus.
    »Es war vor einem dunklen Toreingang. Er kam und griff nach mir, ich wehrte mich, doch er war stark, sehr stark, ich zappelte, ich schrie, doch es schien mich keiner zu hören. Er schleppte mich in eine Ecke, stieß mich zu Boden und fiel über mich her.«
    »Wer war das, wer?« Vitus hatte sich ruckartig aufgerichtet, eine Welle des Zorns überflutete ihn.
    »Ein Junge namens Tibor.« Sie streichelte ihn beruhigend und zog ihn wieder zu sich herunter. »Der Name sagt dir nichts. Er war aus der Nachbarschaft, erst fünfzehn, aber schon stark wie ein Mann. Ich wehrte mich mit aller Kraft, aber er schlug mich und zwang meine Beine auseinander; ich kratzte, ich biss, ich bespuckte ihn, er lachte bloß, meine Gegenwehr schien ihn nur noch hemmungsloser zu machen, Blut spritzte auf das Pflaster, ich war damals noch, ich war noch ...«
    »Du warst noch Jungfrau.«
    »Ja. Die Jungfräulichkeit ist das Wichtigste überhaupt für eine junge Zigeunerin. Ist sie verloren, aus welchem Grund auch immer, ist das Mädchen in den Augen der Männer unzüchtig und wertlos.« Die schreckliche

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