Der Wanderchirurg
es dir?«
»Ein kleines bisschen besser.« Sie lächelte.
»Schön!« Er freute sich ehrlich. »Wird Zeit, dass wir den Aufguss erneuern.«
Tirzah raffte ihren langen, bis zur Erde reichenden Rock hoch und erhob sich. Die Schüssel, aus der die heilenden Dämpfe nach oben gestiegen waren, wurde sichtbar. Ebenso das Loch, das Vitus noch am Abend zuvor in die Sitzfläche gesägt hatte. Sie beobachtete ihn, wie er fürsorglich die Kräutermischung zusammenstellte und mit dem Ellenbogen die Temperatur des Aufgusswassers maß. Als er fertig war, richtete er sich auf.
»Setz dich vorsichtig wieder drüber, ich bin nicht sicher, ob die Temperatur gut ist.«
»Sie wird es sein.« Ihre Augen leuchteten, während sie Platz nahm und sich dabei vorkam, wie eine Henne auf dem Ei. »Du bist ein wundervoller Arzt.«
An einem der nächsten Abende hatte Vitus sich weiter vom Lager entfernt, als er ursprünglich wollte, doch das Sammlerglück war ihm hold gewesen: Er hatte im angrenzenden Wald nahezu alle Kräuter gefunden, die er zur Auffrischung seiner Vorräte brauchte. Jetzt aber brach die Dunkelheit herein, und er musste machen, dass er zurückkam, wollte er noch die Hand vor Augen sehen. Er überlegte gerade, dass ihm nur noch einige der prächtig ausgebildeten Exemplare des Zinnkrauts fehlten, die er in der Nähe des Lagers entdeckt hatte, als ihn ein langer, klagender Schrei zusammenfahren ließ. Er lauschte angespannt. Nichts ...
Hatte er sich getäuscht?
Da! Wieder dieser seltsame Schrei! Entschlossen setzte Vitus seinen Weidenkorb ab. Er wollte der Sache auf den Grund gehen. Geräuschlos tastete er sich durch das Unterholz in die Richtung vor, aus der er den Ruf vernommen hatte. Nach wenigen Schritten erblickte er durch das Geäst einer Kiefer die Gestalt einer Frau, die ihr Gesicht der untergehenden Sonne zuwandte. Tirzah. Das Zigeunermädchen stand da wie in Trance, stocksteif, mit geschlossenen Augen. Plötzlich riss sie beide Arme hoch, spreizte die Hände und stieß abermals den kehligen, sich am höchsten Punkt brechenden Klageschrei aus. Dann jedoch, anders als zuvor, begann sie zu singen. Vitus hörte eine sich langsam dahinziehende, elegische Weise, die von Tirzah mit sparsamen Körperbewegungen unterstrichen wurde. Er hätte gerne verstanden, was sie sang, aber er kannte die Sprache nicht; er merkte nur, dass die Melodie an Tempo gewann, die Bewegungen der Sängerin schneller wurden, schneller und schneller, während ihre Füße kraftvoll und rhythmisch auf den Boden stampften.
Je länger er dem Geschehen folgte, desto mehr beschlich ihn ein Gefühl, als würde seine Anwesenheit etwas entweihen. Was hier geschah, war nicht für seine Augen und Ohren bestimmt.
Vorsichtig ging er die wenigen Schritte zu seinem Sammelkorb zurück, nahm ihn auf und schlug den Weg zur Wagenburg ein.
Die Fensterläden auf seiner Seite des Wagens hatte er, im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit, geschlossen. Dämmriges Licht umgab ihn.
Er wollte schlafen, um wieder gesund zu werden. Schon den ganzen Tag über hatte er Halsschmerzen verspürt, deren Ursache er in einer Erkältung vermutete. Vor einer Stunde war er deshalb vom Lagerfeuer aufgestanden, hatte eine Entschuldigung gemurmelt und heimlich einen lindernden Trank zu sich genommen, den er mit einer nicht zu kleinen Portion Bilsenkraut angereichert hatte. Bilsenkraut gab angenehme Gedanken und schöne Träume.
Tirzah fiel ihm ein, die jetzt noch bei den anderen saß und die Reiseroute für die nächsten Tage besprach. Tirzah. Tirzah konnte wundervoll erzählen. Die vergangenen Abende hatten sie lange am Feuer gesessen und nicht gemerkt, wie die Zeit verging. Er hatte sich dabei ertappt, dass er ihr oftmals gar nicht zuhörte, weil der Duft ihres Haars ihn ablenkte ... Lavendel. Ihr Haar roch so betörend nach Lavendel. Und ihre Haut, ihr Mund, ihre Lippen, die so viele Wörter formten, von denen jedes einzelne ihm besonders wichtig erschien - alles das machte sie so unvergleichlich begehrenswert. Seltsam, dass er das nicht schon am Anfang bemerkt hatte. Was sie wohl jetzt tat? Zu dumm, dass er nicht bei ihr und den anderen sein konnte. Aber er musste sehen, dass er gesund wurde. Morgen früh würden wieder Patienten auf ihn warten und auf seine Hilfe hoffen. Er würde sie behandeln, zusammen mit Tirzah. Tirzah ... Er lag auf dem Rücken und hatte ihr Bild so deutlich vor Augen, als stünde sie leibhaftig vor ihm. So wie an jenem Tag, als er ihr die Sitzbäder
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