Der Wanderchirurg
Schulter.
»Hab ich auch.«
»Was hast du?« Er verstand nicht.
»Ich hab Schmerzen im Unterleib.« Sie schluckte, aber ihr Kopf blieb an seiner Schulter. »Schon seit Tagen.«
Fast fühlte er so etwas wie Erleichterung. Dadurch also erklärte sich ihr merkwürdiges Verhalten! »Vielleicht hast du einen Blasenkatarrh?« Unwillkürlich zog er sie ein wenig fester an sich.
»Das habe ich auch schon gedacht«, murmelte sie. »Ich habe große Schmerzen beim ... beim ...«
»Beim Wasserlassen?«
»Ja. Ich habe Medizin genommen, aber es ist nicht besser geworden.«
»Seit wann nimmst du die Medizin?«
Sie dachte nach, während ihr Kopf noch immer an seiner Schulter ruhte und eines ihrer langen schwarzen Haare ihm die Nase kitzelte. Es duftete nach Lavendel.
»Seit ungefähr einer Woche, mehrmals am Tag.«
»Dann müsste die Entzündung längst abgeklungen sein.« Er überlegte laut: »Die Tage werden zusehends kürzer, und morgens und abends ist es schon empfindlich kühl. Vielleicht ist die Krankheit deshalb immer wieder aufs Neue ausgebrochen. Wie heißt es so richtig in der Heilkunde? »Was die Kälte bringt, muss die Wärme wieder wegnehmen.« Nur: Die Wärme muss die richtige sein, und man muss ihr ausreichend Zeit geben, damit sie ihre heilende Kraft entfalten kann.«
Sie begann wieder zu zittern. Er sah, wie sie die Zähne zusammenbiss und ihre Hände wieder zum Schoß fuhren. Ein neuer Schmerzanfall durchzuckte sie.
»Höchste Zeit, dass ich etwas unternehme«, sagte er entschlossen. »Ich hätte längst merken müssen, dass dir etwas fehlt.« Er löste sich von ihr und ging voran in den gemeinsamen Wagen. Dort angelangt, holte er das Buch De morbis hervor und begann darin zu blättern.
Nach einiger Zeit, Tirzah hatte so lange still auf ihrer Seite der Wolldecke gewartet, schlug er das Buch wieder zu. »Darf ich zu dir hinüberkommen?«
»Ja, natürlich.«
»Ich weiß jetzt, wie wir das Leiden bekämpfen«, sagte er eifrig, während er die Kräutersäckchen betrachtete, die über ihrem Bett von der Decke herabhingen. »Wir benötigen dazu Goldrute, Kamillenblüten und Leinsamen. Den Samen zerstoßen wir, anschließend kommen die Blüten der Kamille und die Blätter der Goldrute dazu. Dann gießen wir alles in einer großen Schüssel mit heißem, aber nicht zu heißem Wasser auf.«
»Aha.« Tirzah hatte aufmerksam zugehört.
»Und dann?«
»Nimmst du ein Sitzbad, und zwar den ganzen Tag über.« Tirzah wunderte sich: »Aber Vitus! Du hast morgen Vormittag wieder Behandlungsstunde, und ich muss dir assistieren. Wie soll ich da ein Sitzbad nehmen?«
»Lass mich nur machen«, sagte er geheimnisvoll. »Ich brauche dazu nur eine Säge.«
Die Patienten, die Vitus am darauf folgenden Morgen behandelte, wunderten sich über seine Assistentin, die wie festgeklebt auf einem klapprigen Stuhl saß, während der Cirurgicus geschäftig hin-und hereilte.
»Eigentlich müsste es genau umgekehrt sein«, murmelte eine alte Aschesammlerin empört. Sie sprach leise, aber doch so laut, dass Vitus ihre Bemerkung hörte.
»Was müsste denn genau umgekehrt sein, Abuela?«, fragte er freundlich.
Die Alte fühlte sich ertappt, wollte aber nicht klein beigeben. »Eigentlich solltet Ihr es sein, Cirurgicus, der sitzt, und Eure Assistentin dort«, sie deutete missbilligend mit dem Kopf zu Tirzah hinüber, »müsste die Handlangerdienste tun.«
Vitus lachte. »Das lasst nur meine Sorge sein, Abuela!
Wenn ich mich nicht irre, sammelt Ihr die Asche auf den Höfen ein und tragt sie dann zum Seifenmacher. Wie dieser dann die Seife herstellt, kann Euch egal sein, nicht wahr?«
»Ja, schon.« Die Alte hatte keine Ahnung, worauf Vitus hinauswollte.
»Bei Euch nun liegt ein hartnäckiger, berufsbedingter Husten vor, gegen den ich Euch einen Saft aus Efeublättern verschreibe. Wie dieser hergestellt wurde, nämlich im Sitzen durch meine Assistentin, kann Euch ebenfalls gleichgültig sein. Habt Ihr mich verstanden?«
»Ja, Cirurgicus.« Der Alten dämmerte es. »Was bin ich dafür schuldig?«
»Fragt meine Assistentin.«
Die Aschesammlerin schob sich widerstrebend zu Tirzah hinüber. »Was bin ich Euch schuldig?«
»Nichts, Abuela.« Tirzah, die jedes Wort der Unterhaltung mit angehört hatte, zeigte sich unerwartet großzügig. Als die Alte fort war, blickte Vitus sich um. Für heute, so schien es, konnte er die Behandlungsstunde beenden. Er ging zu Tirzah, die noch immer wie festgewachsen auf ihrem Stuhl saß. »Wie geht
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