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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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hatte, die man nicht von einem Verrückten erwarten konnte. Nach dem Mord an der Witwe Morand hatte er zum Beispiel die Tür zugezogen und den Schlüssel weggeworfen, sodass die Entdeckung der Tat sich verzögert hatte. Minuten nach der Ermordung von Aline Alaise war Vacher so geistesgegenwärtig gewesen, einem Bauern, der ihm auf einem Pferdewagen entgegengekommen war, weismachen zu wollen, dass er sich bei einem Unfall eine blutige Nase geholt habe. Und als er nach dem Überfall auf die zwölfjährige Alphonsine Derouet einem Polizisten begegnet war, hatte er sich so unauffällig benommen, dass er diesen nicht misstrauisch gemacht und ihn sogar auf eine falsche Fährte gelockt hatte.
    Nachdem Vacher seine Opfer getötet hatte, war er bisweilen in einen sexuellen Rausch verfallen. Doch selbst dieser sprach nach Lacassagnes Ansicht nicht gegen seine Schuldfähigkeit, weil er erst nach dem sorgfältig geplanten Mord einsetzte. An diesem Punkt »erregt es ihn, die Leiche vollständig zu besitzen; dann und nur dann kann er ungestört deren Geschlechtsorgane verstümmeln«. Nach Lacassagnes Ansicht war dies ein Zeichen von Sadismus. Dieser erst vor Kurzem geprägte Begriff bezeichnete Menschen, die es lustvoll fanden, anderen Schmerzen zuzufügen. Der Terminus »hat nicht das Geringste mit Geisteskrankheit zu tun«, schrieb Lacassagne, und wer sich solcher Praktiken befleißige, verdiene den Schutz der Gesellschaft nicht. Wer solche Neigungen habe und Verbrechen begehe, müsse auch als Verbrecher behandelt werden.
    Wie Fourquet war auch Lacassagne der Meinung, dass Vacher viele weitere Verbrechen begangen, aber nicht gestanden hatte. Die Akten, die aus dem ganzen Land eintrafen, ließen den Schluss zu, dass Vacher 25 bis 27 Menschen umgebracht, vergewaltigt oder misshandelt hatte. Gestanden hatte er jedoch nur elf Taten, die er alle nach seinen Schüssen auf Louise begangen hatte. Lacassagne vermutete, dass Vacher ein selektives Geständnis plante – eine Zusammenstellung von Verbrechen, die ihn als schuldunfähigen Verrückten zeigen sollten. Obwohl er einige Male auch gestohlen hatte – Augustine Mortureux’ Ohrringe und Schuhe, Marie Moussiers Ehering und 200 Francs des Vagabunden Gautrais –, leugnete er diese Diebstähle hartnäckig. Fourquet führte dies auf eine Art perverses Ehrgefühl zurück, doch Lacassagne war anderer Meinung. Seiner Ansicht nach wollte Vacher alles bestreiten, was ein logisches Motiv hätte darstellen können.
    »Letztlich«, schrieb Lacassagne, »und das ist ein wichtiger Punkt, hatte er immer genug Geld, um nicht als Landstreicher festgenommen zu werden.« Dies und seine Papiere vom Militär halfen ihm, drei Jahre lang einer Verhaftung zu entgehen.
    Nachdem die Experten Vacher vier Monate lang studiert hatten – sie besuchten seine Familie, beurteilten seine Erbanlagen, beobachteten sein Verhalten, analysierten Tatorte und lasen Berge von Zeugenaussagen, Geständnissen und medizinischen Berichten –, waren sie bereit, einen Bericht vorzulegen. Im Jargon der damaligen Zeit erklärten sie, Vacher sei »weder epileptisch noch impulsiv«. Er sei ein amoralischer und gewalttätiger Mensch. Er leide gelegentlich an kurzzeitigen Anfällen von »melancholischen Delirien mit Verfolgungswahn und Selbstmordgedanken«. Auch wenn er irgendwann in seinem Leben geisteskrank gewesen sein sollte, war sicher, dass er, »als er aus der Anstalt Saint-Robert entlassen wurde, geheilt und schuldfähig war. Wenn er sich während seiner Haft unvernünftig benommen hatte, dann [nur] deshalb, weil er Geisteskrankheit simulierte.« Vacher sei, einfach ausgedrückt, ein Verbrecher, der »als schuldfähig betrachtet werden sollte. Seine Zurechnungsfähigkeit wird in keiner Weise durch frühere psychische Probleme eingeschränkt.« Nach Ansicht der Experten war der Mörder der jungen Hirten für sein Tun verantwortlich und konnte vor Gericht gestellt werden.

Neunzehn
Der Prozess
    Am 26. Oktober 1898, einem Mittwoch, war der Himmel in Bourg-en-Bresse, einer Marktstadt rund 100 Kilometer nordöstlich von Lyon, bedeckt. Doch in der Hauptstadt des Departements Ain herrschte eine ausgelassene Atmosphäre. Der Mittwoch war Markttag, und Leute aus allen Gemeinden des Bezirks strömten durch die Straßen. Aber es gab noch einen anderen Grund für die Fröhlichkeit: An diesem Tag sollte der Prozess gegen den schrecklichsten Mörder des Jahrhunderts beginnen.
    In den Geschäften waren Bilder von Vacher ausgestellt,

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