Der Wandermoerder
fragen, aber Sie haben [den falschen Ton und] die falsche Zeit dafür gewählt.
Lacassagne schrieb ebenso gereizt:
Dies ist Vachers Theorie: Ich bin unschuldig, weil ich verrückt war. Es ist wichtig, meinen Geisteszustand während meines Wanderlebens zu kennen …
Vacher hat immer darauf gesetzt, dass er aufgrund seines Aufenthalts in einer Nervenheilanstalt straffrei davonkommen werde. Der Arzt erklärte ihn für geheilt, aber heute [besteht er darauf], dass er immer noch krank war, als man ihn entließ.
Wir haben gesehen, dass er sich auf das Simulieren eines Deliriums konzentrieren kann, dass er sein Geständnis zurückhalten oder verschleiern kann und dass er unbedingt erreichen möchte, dass man ihn in der Zeit seines Wanderlebens für schuldunfähig erklärt. Das alles ist zu raffiniert für einen Geisteskranken.
Das soll nicht heißen, dass Lacassagnes Besuche bei Vacher ihn von dessen Schuldfähigkeit überzeugten. Sie machten ihm jedoch klar, dass er aus Gesprächen mit Vacher keine richtigen Schlüsse ziehen konnte. Vacher würde sich immer verstellen und immer die Wirkung seiner Worte abwägen. Um diesen Fall zu lösen, um herauszufinden, ob der Beschuldigte tatsächlich geisteskrank war, musste Lacassagne Fakten sprechen lassen. Darum wandte er sich nunmehr den forensischen Beweisen zu, die an den Tatorten gesammelt worden waren.
Da Lacassagne die Opfer nicht selbst obduziert hatte, konnte er nicht für die Qualität oder Präzision der Untersuchung garantieren. Außer den beiden Obduktionen seines Kollegen Jean Boyer waren alle anderen von Ärzten mit unterschiedlicher Erfahrung vorgenommen worden, und zwar unter ungünstigen Bedingungen auf dem Land. Die Leiche des ersten Opfers, Eugénie Delhomme, wurde erst fünf Tage nach ihrer Entdeckung obduziert. Rosine Rodiers Leiche wurde mitten in der Nacht im trüben Licht von Laternen auf einer nebligen Wiese obduziert.
Die Ärzte hatten dabei viele Fehler begangen. Lacassagne hatte in seinem Vademecum darauf hingewiesen, wie wichtig es war, eine anale Vergewaltigung zu prüfen, da Päderastie immer häufiger als Mordmotiv auftauchte. Und weil Vacher eine Flasche mit Öl bei sich getragen hatte und die Ärzte an einigen Leichen Ölspuren entdeckt hatten, wäre so eine Untersuchung in diesem Fall besonders wichtig gewesen. Doch die Ärzte hatten sie nur bei zwei Toten vorgenommen. Lacassagne zeigte die elf Tatortberichte einem Zeichner, der die Leichen in den Positionen skizzierte, in denen man sie gefunden hatte. Mithilfe der Zeichnungen, der Autopsieberichte und Vachers Geständnissen begann Lacassagne dann, Gemeinsamkeiten aufzulisten.
Alle Opfer waren in abgelegenen Gegenden und ohne Zeugen ermordet worden. Alle waren viel kleiner und schwächer als Vacher gewesen – sie konnten sich also nicht wirklich wehren. Zehn Leichen wiesen neben anderen grausamen Verletzungen große Schnittwunden an der Seite der Kehle auf. Die Leiche des elften Opfers, die man aus dem Brunnen geborgen hatte, bestand nur noch aus Knochen. An zehn Tatorten hatten die Ermittler in einiger Entfernung von der Leiche eine oder mehrere riesige Blutlachen gefunden. Die Leiche selbst war fast immer versteckt worden, entweder unter einem Busch wie bei Eugénie Delhomme, Vachers erstem Opfer, oder in einem verlassenen Schuppen wie bei Louise Marcel, seinem zweiten Opfer. Nur zwei Opfer wiesen an den Innenseiten der Finger oder den Handflächen Wunden auf, die auf Gegenwehr hindeuteten. Keine Leiche hatte Prellungen am Rücken oder Hinterkopf. Wenn das Verbrechen in geschlossenen Räumen begangen worden war, etwa in Hirtenhütten, gab es keine Blutspuren an den Wänden.
Die forensischen Details lieferten Lacassagne genug Informationen, um Vachers Angriffsmethode zu rekonstruieren. »Die Umstände der Morde zeigen, dass die Opfer fast nach dem gleichen Schema überfallen und ermordet wurden. Vacher improvisierte nicht, er ging immer nach der gleichen Methode vor.«
Laut Lacassagnes Rekonstruktion war Vacher meilenweit auf viel benutzten Straßen gewandert, hatte diese dann jedoch verlassen, um an Wandrändern »auf die Jagd« zu gehen. Dort hatte er einsamen Jugendlichen aufgelauert, deren »junges Fleisch ihn faszinierte und reizte«. (Lacassagne wies darauf hin, dass alle Opfer von Vacher, abgesehen von der 68 Jahre alten Witwe Morand, jung gewesen waren.) Vacher hatte sich an einen Hirten herangepirscht, sich rasch umgeschaut, um sicher zu sein, dass niemand in der Nähe war –
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