Der Wandermoerder
den Einzelheiten seiner vielen Verbrechen und den Schlussfolgerungen der Experten zu seinem Geisteszustand. Der Präsident erklärte dann, dass der Angeklagte zwar vieler Straftaten beschuldigt werde, sich dieser Prozess jedoch auf den Mord in Bénonces beschränke, weil dieser in die Zuständigkeit des Gerichts falle. Die Verlesung dauerte eine halbe Stunde. Vacher blieb unter den mahnenden Blicken des Präsidenten zwar stumm, aber er drückte seine Ablehnung durch Gesten aus, schmatzte mit den Lippen, imitierte das Aufschlitzen von Kehlen und biss sich in den Daumen – alles zur Erheiterung der Reporter.
Dann erhob sich Vachers Verteidiger Charbonnier (sein Vorname wurde weder in den Zeitungen noch in offiziellen Dokumenten genannt). Er war ein alter schlauer Fuchs, der bekannt war für sein würdevolles Gehabe, seine Eloquenz und seine Ablehnung der Todesstrafe. Manche meinten, er ähnele mit seinem dicken weißen Bart, dem stechenden Blick und dem zerfurchten Gesicht einem ältlichen Victor Hugo. Charbonnier erklärte, dass Vacher im Gefängnis Saint-Paul so erbärmlich behandelt worden sei, dass dies die Ergebnisse der medizinischen Untersuchungen ungültig mache. Er bat daher das Gericht, Vacher von anderen Nervenärzten untersuchen zu lassen, und zwar in einer Heilanstalt, am besten in Paris, in der Vacher besser behandelt würde. Louis Ducher, der Staatsanwalt, den die Zeitungen als »unanfechtbare Autorität mit echtem Talent für Worte« beschrieben, meinte nur, die Gerechtigkeit habe bereits zu lange warten müssen. De Coston lehnte Charbonniers Antrag ab.
Nun zeigte Vacher an, dass er etwas sagen wolle. Mit Erlaubnis des Gerichts begann er dann, eine vorbereitete Erklärung vorzulesen. Mit einer Stimme, die zwischen Murmeln und einer bisweilen unangenehmen Lautstärke schwankte, erzählte er die inzwischen allseits bekannte Geschichte seines Lebens und beschrieb die Umstände, die zu seiner Geisteskrankheit geführt hatten. Nach mehreren Minuten unterbrach ihn der Präsident.
»Dauert das noch lange?«, fragte er.
»Bitte, Herr Präsident, ich habe nur drei Seiten zu verlesen. Mein Fall ist ernst – ich möchte wirklich verstanden werden.«
»Dann beeilen Sie sich.«
Vacher las weiter. Sein sonderbarer Tonfall brachte einige Zuhörer zum Kichern, aber sie verstummten sofort, als der Präsident ihnen drohende Blicke zuwarf. Vacher beschimpfte alle, die ihm Unrecht getan hatten, darunter auch Louise Barant und Dr. Dufour, der ihn in Saint-Robert für geheilt erklärt hatte. Das meiste Gift versprühte er jedoch gegen Lacassagne, der selbst nach viermonatiger Beobachtung keinerlei »Vertrauen« gezeigt habe. So machte er eine halbe Stunde lang weiter, dann hörte er abrupt auf.
De Coston begann daraufhin mit der formellen Befragung. Nach den Standardfragen – Name, Geburtsort, Alter, Beruf – führte er den Angeklagten Schritt für Schritt durch seinen Werdegang bis zu dem Verbrechen in Bénonces. Obwohl es sich um einfache Fragen nach klaren Fakten handelte, kam Vacher immer wieder auf seine Geisteskrankheit zurück und behauptete, alles habe mit dem Hund begonnen. Dann aber fügte er dieser Geschichte ein neues Element hinzu:
Seither spüre ich zu bestimmten Zeiten und vor allem wenn ich auf dem Land der Sonne ausgesetzt bin, diese Wut und diese plötzliche gewalttätige Umnachtung. Ich habe dagegen angekämpft! O ja, ich habe dagegen gekämpft. In mir tobten schreckliche Schlachten … Die Krankheit überfiel mich ganz plötzlich, wenn ich es am wenigsten erwartete. Dann warf ich mich, ohne mir dessen bewusst zu sein, auf das nächste Opfer. Ich erstach, ich tötete Unschuldige!
Mit anderen Worten: Nicht nur der Hundebiss, die Arznei, die Kugel in seinem Kopf und die falsche Behandlung in der Anstalt hatten seine »Wutanfälle« ausgelöst, sondern auch die helle Sonne. Diese Anspielung auf eine Art umgekehrten Vampirismus war umso überraschender, als Bram Stokers populärer Roman über ein Ungeheuer, das in der Dunkelheit aktiv wurde, nur ein Jahr zuvor veröffentlicht worden war.
Als es Mittag war, zog sich das Gericht zurück.
Die Verhandlung sollte um ein Uhr nachmittags fortgesetzt werden, aber der Mob tobte so laut vor dem Eingang zum Gericht, dass die Sitzung erst eine Stunde später eröffnet werden konnte. Der Morgenmarkt war jetzt geschlossen, und die Marktbesucher strömten nun zum Gericht. De Coston saß ein paar Minuten lang ungeduldig da, dann schritt er zum Eingang und
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