Der Wandermoerder
Straßenhändler verkauften Sonderausgaben ihrer Zeitungen und Broschüren mit Titeln wie »Die Verbrechen von Vacher, dem Jack the Ripper des Südostens«. Ihre Gedichte und Texte schürten noch die Aufregung der Menschen vor dem großen Ereignis:
Er beginnt die Serie
Der perversen Verbrechen
Und schlägt zu in rasender Wut,
In rasender Wut …
Oder:
Junge Hirten voller Angst
Bei Nacht, passt auf.
Es gibt menschliche Bestien,
Unmenschlich böse,
Feige oder verrückte Mörder,
Schrecklicher als Wölfe.
An diesem Tag kamen so viele Journalisten in die Stadt, dass kein einziges Zimmer mehr zu haben war. Die Behörden hatten das örtliche Telegrafenamt mit zusätzlichen Apparaten ausgestattet, weil es angesichts der vielen Depeschen sonst völlig überlastet gewesen wäre. Reporter von allen großen französischen Zeitungen und den meisten Regionalzeitungen waren ebenso anwesend wie Korrespondenten aus Italien und der Schweiz. Selbst der New York Herald und die New York Times hatten Vertreter geschickt. Der Times -Reporter erklärte seinen Lesern, warum er eine so weite Reise in eine französische Provinzstadt unternommen hatte, um den Prozess eines Mannes zu verfolgen, den in Amerika niemand kannte. Vacher, erläuterte er, sei einer »der außergewöhnlichsten Verbrecher, die je gelebt haben. Er stellt Jack the Ripper und fast auch Nero in den Schatten, und wenn künftige Generationen von Monstern erzählen, werden sie zweifellos seinen Namen in einem Atemzug mit Blaubart nennen.«
Für die französische Presse war damals ohnehin eine arbeitsreiche Zeit. Denn einige Wochen zuvor hatte ein Streit über einen kolonialen Außenposten in Ostafrika England und Frankreich an den Rand eines Krieges gebracht. In Paris herrschte in mehreren Ministerien Krisenstimmung, nachdem es misslungen war, einen Kanal durch Panama anzulegen, und die Dreyfus-Affäre spaltete und schockierte die Nation immer noch. Das oberste Berufungsgericht sollte am Tag nach Vachers Prozess über den Fall Dreyfus verhandeln, was bedeutete, dass manche Reporter hastig von einem Ort zum nächsten reisen mussten. Albert Bataille, der Korrespondent des Figaro , teilte seinen Lesern mit, dass er am ersten Tag den Prozess gegen Vacher verfolgen und dann mit dem Nachtzug nach Paris fahren werde, um über das Dreyfus-Berufungsverfahren zu berichten. Er verglich die Situation mit zwei Theaterpremieren am selben Tag: »Die Regisseure hätten sich absprechen sollen!«
Für Vacher waren die Tage vor dem Prozess wenig aufregend. Nachdem er vier Monate in Lyon verbracht hatte, war er wieder in das kleine Gefängnis in Belley gebracht worden, wo er weitere langweilige Monate auf einen Prozesstermin warten musste. Fourquet besuchte ihn zwar immer noch, um ihm womöglich weitere Informationen zu entlocken, doch was waren die Rangeleien mit einem Richter in einem Provinzgefängnis schon im Vergleich zu Streitgesprächen mit den größten Kriminologen der Welt? Vacher litt sehr unter diesen Haftbedingungen.
Als Fourquet eines Tages in Vachers Zelle war und mit ihm plauderte, fragte ihn der Häftling plötzlich: »Haben Sie keine Angst, mit mir hier drinnen zu sein?«
»Sollte ich denn Angst haben?«, erwiderte Fourquet.
»Haben Sie einen Revolver dabei?«
»Nein«, entgegnete Fourquet. Wie Hans Gross war er überzeugt davon, dass ein Polizeibeamter während eines Gesprächs mit einem Verdächtigen nie eine Waffe bei sich tragen solle. Er drehte seine Taschen nach außen und klimperte mit seinen Schlüsseln. »Das sind meine einzigen Waffen«, scherzte er.
Da griff Vacher unter seine Matratze und zog ein Messer hervor. Fourquet »blieb die Luft weg« vor Überraschung. Doch er wusste, dass er sterben würde, wenn er Furcht zeigte. »Hören Sie, Vacher – ich habe soeben den Bericht der Experten bekommen. Man hat Sie für geisteskrank und somit für schuldunfähig erklärt. Aber wenn Sie jetzt versuchen, mich umzubringen, dann verlieren Sie sicher Ihren Kopf, ganz egal, was im Bericht steht. Wer einen Untersuchungsrichter ermordet, wird immer zum Tode verurteilt.«
Fourquet nutzte ein kurzes Zögern von Vacher, machte einen Satz nach vorne und entriss ihm die Waffe. Vacher gestand nun, dass er das Messer nach einer Mahlzeit behalten und seit sechs Wochen versteckt habe. Der zuständige Wärter sollte daraufhin wegen seiner Nachlässigkeit entlassen werden, doch der Mann bettelte so jämmerlich um seinen Job, dass Fourquet es bei einer strengen Verwarnung
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